almis personal blog

La Chimera

Wenn ich jemandem früher von einem Film erzählt habe, dann hat er immer gefragt, wer Regie geführt hat. Das fand ich so spannend, weil die allermeisten Leute sonst fragen nach den Schauspielern. Aber so waren unsere Gespräche immer, anders als andere, wunderbare Gespräche für mich, weil sie mir ganz andere Perspektiven gezeigt haben.

Bei La Chimera jedenfalls ist Alice Rohrwacher die Regisseurin. Ich denke, ihr Schwester Alba ist ein bisschen bekannter, durch viele sehr interessante Rollen in diversen (auch etwas größeren) Indie-Produktionen, aktuell gerade in Maria. Alice war vor La Chimera vielleicht noch ein bisschen unter dem Radar.

Jedenfalls geht es in La Chimera um Arthur (eben Josh O’Connor), einen Engländer, der nach einem Gefängnisaufenthalt wegen Grabraubs wieder zurück in der italienischen Provinz der 1980er Jahre ist. Er hat die magische Gabe, Kunstschätze unter der Erde orten zu können. Seine ehemaligen Komplizen wollen ihn zu weiteren Taten anstiften, weil sie ihn als “Kopf” der Bande brauchen, um die Stücke an den Kunstsammler Spartaco verkaufen zu können. Arthur will aber vor allem Flora (Isabella Rossellini) wiedersehen, die Mutter seiner verschwundenen Geliebten Beniamina….

VORSICHT SPOILER MÖGLICH!!!

Während es der Bande der “tombaroli” um das Erwirtschaften ihres Lebensunterhaltes geht, hat Arthur andere Ziele. Er lebt in einer Bruchbude ohne jeglichen Komfort und Heizung, er hat quasi nur einen Anzug, materieller Besitz scheint ihn nicht zu interessieren. Er ist traurig, er lächelt fast nie (während O’Connor in Challengers dauergerinst hat) Ihm geht es tatsächlich um die Kunst selbst und auch darum, etwas nachzujagen, was einem immer wieder entgleitet. Dieses Motiv korrespondiert mit der Suche nach seiner Geliebten, die dieselben Voraussetzungen erfüllt. Die Geliebte taucht in seinen Träumen auf, er will sie erwischen, aber beim Erwachen ist und bleibt sie verschwunden. La Chimera sagt ja genau das aus, es ist ein “Hirngespinst.”

Auch sonst geht es in dem Film viel um Sprache und Doppeldeutigkeiten. Arthur besucht mit Flora und deren Helferin Italia (Carol Duarte) einen verlassenen Bahnhof in der Nähe und Flora sagt dann: “Questa stazione non appartiene a nessuno“, also dieser Bahnhof gehört niemandem. Worauf die unterstandslose Italia sich Hoffnungen macht, vielleicht selbst hier Unterschlupf zu finden. Flora weist sie daraufhin schroff zurecht: “Questa stazione appartiene a tutti” Der Bahnhof gehört allen. Worauf sich Italia fragt ja was nun allen oder niemanden? Jedenfalls kann er niemals ihr alleine gehören, ist die Schlussfolgerung.

Ein anderes Mal bei einer Kunstauktion wendet sich Spartaco (Alba Rohrwacher) an die Bieter und meint: “It is of inestimable value. We are going to estimate the inestimable” Eine klassische contradictio in se könnte man meinen. Schön ist aber auch, wenn Arthur im Italienischen Fehler macht, die ich persönlich auch ganz genau so gemacht hätte. Einmal hält er zum Beispiel ein neues T-Shirt hoch und fragt Italias Tochter, ob er sich dieses anziehen soll. Er fragt: “Questo?” Und sie bessert ihn aus: “Questa!”. Hätte ich hundertprozentig auch gesagt! Harhar. Aber immerhin verstehe ich das Italienisch, das in diesem Film gesprochen wird halbwegs, es ist nicht so sehr mit Dialekt durchzogen.

Es sind ganz viele Dinge wunderbar in La Chimera. Der Zauber vor allem, die dieser Film vermittelt, auch wenn es ein schmutziges, kaltes, und recht abweisendes Italien zeigt, in dem schmutzige und oft schroffe Menschen leben. Einige Szenen wirken so, als hätte Federico Fellini sie gedreht. La Chimera vermittelt eine Art von magischem Realismus, mit gewissen künstlerischen Kniffen, die diesen Film so schön tragisch-komisch machen. Etwa wenn Arthur mit seiner Wünschelrute durch die Gegend wandert und plötzlich alles in dreifacher Geschwindigkeit abgespielt wird, als wäre Arthur der Road Runner. Oder wie Spartaco und die Diebesbande miteinander streiten und es wird so dargestellt, als wären sie Hunde und Katzen, die sich gegenseitig anbellen und anfauchen. Eigenartig und trotzdem irgendwie faszinierend. Und natürlich auch der seltsame Fluch, mit dem Italia Arthur und die anderen belegt, als sie merkt, dass sie “von den Toten stehlen”. Hier steht dann die Frage der Moral kurz im Fokus der Gedanken, vor allem unter dem Blickwinkel, dass Beniamina vermutlich auch bereits tot ist.

Kann das alles ein gutes Ende finden? Ist Arthur dazu überhaupt bereit, wenn ein Happy End in dieser, seiner Welt, doch jedenfalls ohne Beniamina stattfinden muss? Will er die Schimäre gegen die Realität eintauschen? Ansehen und genießen.