almis personal blog

22 Bahnen

Der Roman 22 Bahnen der deutschen Autorin Caroline Wahl wurde 2023 medial enorm gefeiert, ich habe von einigen Menschen sehr positives darüber gehört und auf Amazon gibt es hunderte begeisterte Leserrezensionen. Ich glaube, da ist es ok, wenn ich sage: Das Buch hat mir jetzt gar nicht einmal so gut gefallen. Aber wie Philipp Tingler bei den TDDL sagte, Literaturkritik muss mehr leisten als die eigene Befindlichkeit über einen Text zum Ausdruck zu bringen und so möchte ich das hier versuchen.

22 Bahnen handelt von der jungen Frau Tilda, einer Mathematikstudentin und ihrer zehnjährigen Schwester Ida. Tilda ist die Ersatzmutter von Ida, da die wirkliche Mutter schwer alkohlkrank ist und sich nicht nur nicht um ihr Kind kümmert, sie gefährdet ihre kleinere Tochter auch mit ihrem mitunter aggressivem Verhalten und ist, qua Sucht, generell ziemlich verantwortungslos: Stichwort Topf auf dem eingeschalteten Herd vergessen. Tilda, die nebenbei an der Supermarktkassa arbeitet und zum Frustabbau Schwimmen geht (22 Bahnen!) sorgt dafür, dass Ida überlebt. Nebenbei gibt es noch den Russen Viktor, der Tilda interessiert und seine eigene tragische Lebensgeschichte im Gepäck hat…

Also erstmal: Das ist mir einfach too much. One tragic event at a time! Harhar. Ich finde, es wird auch zu beliebig, wenn man parallel mit mehreren Personen mitfühlen soll. Zumal das Zentrum der Tragödie, die suchtkranke Mutter, für sich schon nicht besonders gut ausgearbeitet ist. Es werden eine Menge an Alkohliker-Klischees abgearbeitet, die auch Menschen geläufig sind, die mit Alkoholismus noch wenig in Berührung gekommen sind, und das macht mich misstrauisch, weil die Autorin, die sich eines solch großes Themas annimmt, mehr darüber wissen sollte als ich. Es fehlt außerdem die ganze Hintergrundgeschichte. Wieso hat sich das alles so entwickelt? Was für ein Mensch ist diese Mutter? Warum hat sie diese Wahl getroffen? Ich verstehe zwar, dass Tilda sie auf gewisse Weise hasst, aber auch das ist mir zu eindimensional. Es ist für mich immer wesentlich interessanter, wenn Texte die Ambivalenz einer Situation wiedergeben und nicht nur auf die offensichtlichen Reflexe rekurrieren.

Die Beziehung der beiden Schwestern zueinander ist für mich das Kernelement des Romans und der Teil, der noch am besten funktioniert. Allerdings gibt es auch da die typischen Coming of Age Roman Tropen: Das kleine, künstlerisch-begabte, altkluge Mädchen hier, die wilde, emotional beschädigte, aber kämpferische, junge Frau dort. Und dann schauen sie sich auch noch gemeinsam Die Tribute von Panem an, was – minus der Abstraktionsebene – ein direktes Vorbild für 22 Bahnen zu sein scheint. Viktor wiederum ist (natürlich, Russe, er hat die ganze Dostojewski Schwere im Rücken!) emotional unzugänglich, wenn es darauf ankommt aber dann doch auch warmherzig und pragmatisch-anteilnehmend, und das ist mir einfach auch zu sehr Retter-in-der-Not und Märchenprinz. Das würde ich zumindest ein bisschen ironisieren, wäre ich die Autorin.

Auch auf sprachlicher Ebene konnte ich persönlich nicht anknüpfen, es ist halt recht flapsig-rotzig geschrieben und dafür bin ich zu alt. Ziemlich gut hat mir aber ein erzählerischer Kniff gefallen, bei dem immer aufgezählt wird, was vor Tilda so am Supermarktkassenband liegt und wie Tilda die Produkte analysiert und auf die Person rückschließt, die diese Sachen eben gerade gekauft hat. Das hatte für mich mehr Tiefgang als praktisch alles andere in diesem Roman. Schließlich kam mir der Gedanke, dass 22 Bahnen im Grunde ein okayes Jugendbuch wäre oder ist, das einfach über Gebühr zur Offenbarung der neuen deutschen Literaturszene hochgejazzt wurde und dem dieser Ballast, meiner Meinung nach, nicht guttut.

Und ja, that’s it. Bin jetzt auf den Film gespannt.