Letztens ging das Kind in der Früh vor mir aus dem Haus. Er ist in die Firma gefahren, ich in mein Garten-Büro. Überraschend treffe ich ihn eine halbe Stunde später vorm Ströck am Bahnhof, essend.
Ich: Hey Mauus, was machst du da?
Note to self: Man begrüßt einen bald 17-jährigen, der einen Kopf größer ist als man selbst, nicht mit “Maus” in der Öffentlichkeit Harhar.
Aber er hat es mir nicht übel genommen. Und er hat auf seinen Freund gewartet, der in der Nebenabteilung seinen Ferialjob macht.
Heute sind beide zu mir gekommen und zum Arbeitsabschluss in den Pool gesprungen.
Endlich bin ich nach meinem Patricia Highsmith Marathon dazugekommen, das Buch Über Menschen zu lesen, dass ich von M. zum Geburtstag bekommen habe. M. und ich als ehemalige Germanistikstudierende (harhar) schenken uns seit bald 30 Jahren Bücher zu allen Gelegenheiten.
Über Menschen spielt in der jüngeren Vergangenheit, nämlich zur Coronazeit. Das braucht einen aber nicht abzuschrecken, denn die Protagonistin Dora flieht genau aus diesem Grund aus Berlin aufs Land. Ihr Partner Robert hat sich vom Klima- zum Corona Apokalyptiker entwickelt und würde am liebsten das restliche Leben im Lockdown verbringen, während Dora die Dinge wesentlich differenzierter sieht. “Dora mag keine absoluten Wahrheiten und Autoritäten, die sich darauf stützen. In ihr wohnt etwas, das sich sträubt.” Und weiter: “Die Panik stieg, als wäre Krankheit und Tod neu erfunden worden.” Im ersten Teil des Romans, der in drei Abschnitte gegliedert ist, geht es viel um einen gewissen Befund darüber, wo die Gesellschaft Doras Meinung nach steht.
Aber dann, wie gesagt, zieht Dora mit ihrem Hund aufs Land und der Roman scheint eine amüsante, aber harmlose Betrachtung von der schrulligen Nachbarschaft zu werden. Dora gräbt ihren Garten um, arbeitet in ihrem Markting “Bullshitjob” im Home Office und integriert sich quasi nebenbei ins Dorfleben. Ihr direkter Nachbar, ein bulliger Typ namens Gote, stellt sich ihr als “der Dorfnazi” vor und wie man später merkt, ist das nicht kokett gemeint. Er hat eine rauhe Vergangenheit. Seine kleine Tochter Franzi ist oft bei Dora und spielt mit ihrem Hund. Alles plätschert recht gemächlich vor sich hin und es passiert nicht viel. Bis dann der dritte Teil mit einem für mich sehr unerwarteten Plottwist daherkommt und man das Buch tatsächlich nicht mehr zur Seite legen kann.
Juli Zeh engagiert sich neben ihrer Arbeit als Autorin politisch in der SPD, setzt sich aber als Juristin auch mit Grundrechtsbelangen auseinander und hinterfragt dabei das allgemeine Corona- und Ukrainekrieg-Narrativ. Man könnte auch einfach sagen, dass sie versucht, Dinge differenziert zu sehen. So auch in Über Menschen, wo Dora sich und ihre Fähigkeit zur Akzeptanz an Gote überprüfen muss, der zwar einerseits extreme Ansichten hat, andererseits aber auch ein “echter Mensch” ist, ein liebevoller Vater, einer, der sich auch um Dora sorgt und selbstlose Dinge für sie tut. Auch hier passen die Schablonen nicht mehr, die Dora letztlich lange Zeit selbst benutzt hat, um sich die Welt zu erklären. Fazit gibt es keines bzw. dieses, dass das Leben ungeheuer komplex ist.
Mit diesem Roman setzt sich Zeh sicher einer gewissen Einordnung aus, gegen die das Buch eigentlich arbeitet. Aber ich denke, sie lebt ganz gut damit. Ich werde jedenfalls noch mehr Texte von ihr lesen.
Wie seit einigen Tagen bekannt ist, wird der Senator J.D. Vance der Vizepräsidentschaftskandidat von Donald Trump für die kommende Wahl sein.
Vance ist aber nicht nur Politiker, er hat 2016 auch den Roman Hillbilly Elegie geschrieben, der ein Bestseller wurde und im darauffolgenden Jahr beim Ullstein Verlag auch in einer deutschen Übersetzung erschienen ist. In dem überwiegend sehr positiv rezensierten Werk, das auch verfilmt wurde, beschreibt Vance seine eigene Lebens- und Familiengeschichte. Er wurde in einer unterpriviligierten Familie mit einer drogenabhängigen Mutter groß; er beleuchtet aber auch generell das Milieu seines Aufwachsens, landläufig, und wohl auch etwas abschätzig, werden die Menschen in den ländlichen, gebirgigen Gebieten der USA “Hillbillies” genannt.
Jetzt hat Ullstein bekanntgegeben, dass der Vertrag von Vance nicht verlängert wird. Die Rechte hat nun ein anderer Verlag gekauft. So weit, so gut. Ullstein begründet seine Entscheidung aber allen Ernstes mit der “politischen Wandlung” des Autors. Da stellt sich doch die Frage, was macht Ullstein mit seinen anderen Autoren? Wird da jetzt jeder und jede einem Gesinnungstest unterzogen werden? Und wer darf bestimmen, was die “richtige Haltung” ist? Oder reicht Vance aus, fürs Virtue Signalling? Ich finde diese Begründung höchst problematisch und willkürlich.
Ich habe mir jedenfalls Hillbilly Elegy bestellt und bin gespannt, das Buch zu lesen.
Diese Woche habe ich mir nochmal Babylon von Damien Chazelle angesehen, da war ich voriges Jahr in der Pressevorstellung, damals hat ihn aber ein Kollege besprochen. Ich war darüber ganz froh, denn der Film hat mich erstmal eher sprachlos zurückgelassen. Von Kritikern wurde er durchwegs als mehr oder weniger verunglückt bezeichnet und war auch ein finanzieller Flop, gleichzeitig gibt es viele enthusiastische Kritiken auf der Film-Plattform letterboxd. Und wie das manchmal so ist, irgendwie ist beides verständlich. Harhar.
Damien Chazelle war mit 32 Jahren der jüngste Gewinner eines Regieoscars bisher, für La La Land, völlig zurecht natürlich. Ich liebe den Film sowieso, das weiß eh jeder, aber er ist auch objektiv betrachtet ein Film wie aus einem Guß, in sich komplett stimmig und einzigartig.
Babylon ist anders. Chazelle porträtiert darin in 189 Minuten (!) das dekandent-verkommende Hollywood Ende der 1920er Jahre, als der Tonfilm langsam den Stummfilm ablöste – ein Motiv, das wird schon von The Artist kennen. Chazelle schildert den Wandel aber radikaler, anhand von gleich mehrerer Personen wie der aufstrebenden und lebenslustigen Schauspielerin Nellie LaRoy (Margot Robbie) und dem ambitionierten Film-Assistenten Manuel (Diego Calva), der sich in sie verliebt. Weitere Protagonisten sind außerdem der alternde Star Jack Conrad (Brad Pitt), der Bauhaus Architektur und die Zwölftonmusik kennenlernt und merkt, dass sich die Filmbranche ändern muss, auch wenn es auf seine eigenen Kosten geht, und der schwarze Musiker Sidney Palmer (Jovan Adepo), der zwischen Kunst und Kommerz hin und her gerissen ist.
Babylon ist ein einziges Chaos – was wiederum stimmig ist, siehe die Geschichte von Babel. Er hat ein paar wirklich eklige Szenen (gleich zu Beginn), er hat Szenen, bei denen man schon beim ersten Mal ansehen denkt, diese sind ikonisch wie etwa die tanzende Margot Robbie oder die Begegnung mit der creepy Unterweltfigur James McKay (Tobey Maguire). Einmal herrscht eine Art Great Gatsby Vibe Baz Luhrman’scher Machart, dann aber wieder Kammerspiel-artige Momente, wo zehn Minuten in Echtzeit geschildert wird, wie eine Filmszene mühsam gedreht wird, also mit allen Redundanzen und Leerläufen, was durchaus seinen Reiz hat. Außerdem gibt es epische Dialoge, wie jenen mit der Filmkritikerin (Jean Smart), die dem niedergeschlagenen Conrad erklärt, wieso seine Zeit ihrer Meinung nach vorbei sei und ihre Worte sind gleichermaßen brutal ehrlich wie auch ziemlich schlüssig.
Die Schauspieler befinden sich gefühlt alle irgendwie in verschiedenen Filmen. Calva und Adepo legen ihre Rollen sehr ehrlich und ernsthaft an, andere spielen quasi Parodien ihrer selbst, vor allem Robbie ist völlig over the top wie eine Karikatur. Da weiß man dann nie, ist das beeindruckend oder ist das nur krasses Overacting. Da Robbie eine gute Schauspielerin ist, nehme ich mal an, dass die Art ihrer Darstellung von Chazelle intendiert war.
Babylon hat so viele verschiedene Facetten und Tonalitäten, dass ich es eher als gigantomanisches Expertiment bezeichnen würde, weil es kein stimmiges Ganzes ergibt; gleichzeitig ist der Film zweifelsohne unterhaltsam und ambitioniert. Man hätte aus Babylon allerdings wahrscheinlich zwei oder drei Filme machen können und dann mehr Zeit für die jeweiligen Geschichten und Themenkomplexe gehabt und man hätte jeden Film in einem anderen Stil drehen können. So muss man ihn halt so nehmen wie er ist.
Vielleicht schaff ich in einem Jahr ein besseres Resümee. Harhar.
Unlängst habe ich gehört, wie sich jemand selbst als “Studierender” gegendert hat.
Ich stehe dem Gendern in seinen immer extremeren Auswüchsen kritisch gegenüber, weil ich wirklich finde, dass es vor allem literarische Texte fast unlesbar macht und ihrer Schönheit beraubt. Gendert von mir aus alle amtlichen Gebrauchstexte und ähnliches im Zuge der Gleichberechtigung, die liest eh keiner aus Freude. Jedenfalls verstehe ich gar nicht, wenn sich jemand selbst gendert, denn er oder sie hat ja eindeutig ein Geschlecht (naja ok, anderes Thema)
Und gestern finde ich zufällig beim Bücher schlichten meinen ersten Kurzroman aus dem Jahr 1989 (sic!) wieder. Nicht nur, dass ich im Vorwort den Inhalt spoilere, stoße ich tatsächlich dort auch auf folgenden Satz: “Bis sie eines Tages einen intellektuellen Germanistikstudierenden (…) kennenlernt.”
Oh mein Gott, sagt mir nicht, ich habe damit angefangen.
Gestern bin ich in meiner X Timeline zufällig über den Auftritt von Fran Lebowitz bei Jimmy Fallon gestolpert.
Wer Lebowitz nicht kennt, kann zum Beispiel meine Kolumne über die Doku-Serie, die Martin Scorsese über sie gedreht hat, lesen oder die Serie selbst auf Netflix ansehen, sie ist genial und heißt Pretend it’s a city. Sieben Episoden in denen Lebowitz einfach nur ihre Ansichten zu allen möglichen Themen zum besten gibt . Es ist so klug und witzig und – was ich sehr an ihr schätze – sie hat zwar starke Meinungen, aber ist dabei nie dogmatisch und belehrend.
Nun war sie also bei Jimmy Fallon und hat darüber geklagt, dass sie die heißen Temperaturen schwer aushält und deshalb eine Klimaanlage hat.
“I know, it’s bad for the environment. I don’t care. Because I feel I am good for the environment. I have no children. (…) I don’t own an oil company. I don’t have a plane – like some very big environmentalists that we all know.”
Dann erzählt sie, dass sie Kochen hasst. Am schlimmsten während der Pandemie wäre für sie gewesen, dass die Restaurants geschlossen waren.
“During the lockdown, when all restaurants were closed which was – ok I know, that was not the worst thing about Covid; people died, horrible, okay. But the next worst thing was no restaurants.”
Am Ende erwähnt Fallon, dass er vor kurzem den Papst getroffen hätte und Lebowitz hätte darauf gesagt, sie hätte gerne seinen Job und Fallon dachte, sie meinte seinen, Fallons Job. Lebowitz darauf:
“Why would I enjoy your job? Let me put it this way: I couldhave your job. But even though I wanted to be the pope, I don’t expect to be. I am well aware a jewish woman is not going to be the pope.”
Lebowitz kann man im November live im Gartenbaukino in Wien sehen (unbezahlte Werbung). Ich weiß ja, wieso sie derzeit so oft auftritt, sie hat es Scorsese erzählt. Sie hat eine sehr große Wohnung in New York gekauft, die sie sich eigentlich nicht leisten kann, um alle ihre Bücher unterzubringen und nun muss sie arbeiten. Harhar.
Froh kann ich vermelden, dass mein Text nun die magische 70.000 Wörter Schwelle überschritten hat.
Aufmerksame Leser werden sich denken: Moment mal, hatte sie nicht schon vor zwei Jahren 50.000 Wörter?!?? Ja, das ist richtig, aber die ersten 50.000 sind ja bekanntlich die einfachsten, harhar.
Naja, ich weiß es auch nicht genau, es kam halt immer etwas dazwischen. Größere Jobprojekte, ein Bandscheibenvorfall, Zeiten, in denen man nicht weiterweiß (im doppelten Sinn), Zeiten der generellen Unfokussiertheit, Gewichtszunahme, Gewichtsabnahme, you name it. Generell ist es einfacher, Fragmente in Notizbücher zu kritzeln, als dann wirklich eine durchgängige und schlüssige Handlung zu erarbeiten. Und natürlich auch, das sagte mein Englischprofessor (RIP) immer: Writing is rewriting. Manches fällt daher auch wieder raus.
Heuer läuft es aber besser, ich versuche regelmäßig zu schreiben, auch hier im Blog, und das funktioniert gut.
Ich muss leider zugeben, dass ich bisher weder mit den Werken von Jane Austen vertraut bin (schwere Bildungslücke), noch irgendwelche Verfilmungen ihrer Romane gesehen habe. Ok, ich korrigiere, ich habe Clueless gesehen, wobei ich nicht draufgekommen wäre, dass das einem Austen Roman nachempfunden ist.
Dennoch eher sehr late to the party, aber gestern hab ich zumindest mal Sinn und Sinnlichkeit nachgeholt, ein Film, der in Kürze auch schon 30 Jahre alt wird und sehr prominent besetzt ist.
Nach dem Tod des Vaters müssen die Schwestern Elinor (Emma Thompson) und Marianne (Kate Winslet), sowie die Jüngste Margret, die noch ein Kind ist, und die Mutter ihr vornehmes Leben in einem südenglischen Herrenhaus hinter sich lassen, da die Erbschaftsgesetze vorsehen, dass alles ihr Bruder aus der ersten Ehe das Vaters und dessen missgünstige Ehefrau erben. Der gutmütige Cousin der Mutter überlässt ihnen ein Haus in einer anderen Grafschaft; dennoch sind sie gezwungen ein, im Vergleich zu vorher, sehr bescheidenes Leben führen, und wie das so ums Jahr 1800 ist – die Frage nach Heirat und Versorgung der Frauen steht plötzlich sehr dringend im Raum. Elinor gilt sowieso schon als “Spinster”, zurückhaltend und (oberflächlich betrachtet) wenig emotional, während Marianne ganz klare Vorstellungen von der romantischen Liebe hat…
Diese Verfilmung von Ang Lee hat von der ersten Minute an eine für mich zutiefst humoristischen Note. Obwohl die Handlung nicht lustig ist. Es beginnt ja mit einem Todesfall, es geht weiter mit schwieriger Liebe und schließlich mit der Bedrohung von Krankheit – denn zu dieser Zeit wird aus einem banalen grippalen Infekt schnell einmal eine lebensbedrohliche Situation. Dennoch ist die Tonalität immer heiter-ironisch und die einer Komödie. Darsteller wie Hugh Grant, der hier wieder in seiner Kernkompetenz verwirrt-dreinschauen brilliert (und es dabei auch ein wenig übertreibt), und Hugh Laurie (später als Dr. House bekannt), der den abgeklärten Zyniker gibt, unterstreichen dies.
Sehr witzig finde ich auch, dass als die kleinste Schwester, die immer etwas vorlaut alles mögliche weitererzählt was sie nicht soll, von der Mutter belehrt wird, dass das nicht angemessen ist. Wenn man nicht wisse, was man sagen soll, so doziert die Mutter, dann wäre es angebracht, über das Wetter zu sprechen, das sei unverfänglich. Daran sieht man, dass der Film ein period piece ist, denn heutzutage ist es nicht mehr möglich, einfach nur über das Wetter zu sprechen, ohne gleich eine Kontroverse zum Thema Klimawandel auszulösen. Jedenfalls ist es lustig zu beobachten, zu welchen Gelegenheiten im Film dann offensiv über die Wetterlage gesprochen wird.
Sense and Sensibility ist der erste Roman von Jane Austen und sucht eine gewisse Balance zwischen den Strömungen Rationalismus und Empfindsamkeit – Bauchgefühl versus Verstand, wenn man so will. Die englische Gesellschaft und ihre Regeln, die Spleens und Bosheiten der Mitmenschen werden von Austen mit Genuss seziert. Mit der Moral von der Geschichte bin ich persönlich nicht ganz einverstanden oder sehe sie vielmehr ambivalent.
Ang Lee hat einen unterhaltsam-niveauvollen Film mit der Creme de la Creme des englischen Schauspielerpersonals dieser Zeit gemacht; auch wenn ich den Hype um Alan Rickman nicht wirklich nachvollziehen kann.
Es gab Prosciutto, Käsewurst und Gouda, weiche Eier, Tomaten, Ananas und Erdbeeren, Marmelade und Croissants, Kornspitz und Semmeln. Und Kaffee und Orangensaft. Das habe ich früher mit dem besonderen Menschen gemacht, denke so gern daran.
Der Brunch begann um 11 Uhr und zog sich dann bis 18 Uhr hin. Harhar. Na ja, dazwischen waren wir auch im Wasser. Es gab viel zu besprechen.
Unter anderem, dass M. mit ihrem Sohn Zeugen von “Speeds” Dönerausflug in Favoriten würden (Almisblog hat berichtet), weil sie dort zufällig auch gerade essen wollten – natürlich dann ein Ding der Unmöglichkeit. Aber ich konnte dem Kind angebermäßig ein paar Videos davon schicken.
Der zweiten Film aus der Was wir lieben Reihe das Votivkinos, den ich mir angesehen habe, ist Shiva Baby. Eine ziemlich schwarze Komödie von Emma Seligman aus dem Jahr 2020
Shiva Baby ist im Grunde genommen ein Kammerspiel, das – abgesehen von der Eröffnungsszene – ausschließlich auf einer Trauerfeier in Echtzeit stattfindet. Shiva wird im Judentum die siebentägige Trauer nach dem Tod eines Menschen genannt. Im Film geht es um die junge Danielle (Rachel Senott), die mit ihren Eltern die Feier einer (ihr) nur flüchtig bekannten Verstorbenen besucht, und dort mit allen möglichen Menschen aus ihrer Vergangenheit und Gegenwart konfrontiert wird.
Shiva Baby ist eine Studie über Familienstrukturen allgemein und über die Strukturen von jüdischen Familien im speziellen. Wir haben die genervte Mutter Debbie (Polly Draper), die ständig an ihrer Tochter herumnörgelt, aber auch ihren Mann Joel (Fred Melamed) permanent hektisch massregelt. Wahrscheinlich will sie das Beste für beide, verbirgt es aber geschickt. Wir haben den jovialen, gutmütigen, aber auch grundsätzlich verwirrten Joel. Und wir haben eben Danielle, die nicht genau weiß, was sie mit ihrem Leben anfangen soll, die Gender Studies studiert und von ihrem “Sugar Daddy” Max (Danny Deferarri) für sexuelle Gefällgigkeiten bezahlt wird. Und die mit Maya (Molly Gordon) ihre ehemalige Partnerin wiedersieht.
Die Feier ist ungeheuer anstrengend, auch für den Zuschauer. Danielle wird von praktisch allen Anwesenden durchgängig betatscht, befragt und bewertet. Was studierst du? Was willst du einmal beruflich machen? Hast du einen Freund? Wieso bist du so dünn? Isst du nicht? Die Kamera ist genauso hektisch wie das Gewurl der Trauergäste, die sich gegenseitig schöntun, sofort aber zu lästern beginnen, wenn ihnen die betreffende Person den Rücken zukehrt. Also alles wie im richtigen Leben, harhar.
Danielle erinnert an Peter Sellers in The Party, weil ihr ein Missgeschick nach dem anderen passiert und sie dabei in Zeitlupe die Feier in ein vollkommenes Chaos stürzt. Zu allem Übel erscheint dann auch noch Max samt Frau und Baby, von deren Existenz Danielle nichts gewusst hat, auf der Feier. Herauszufinden, welche Gefühle Max bei Danielle auslöst, ist nicht einfach. Es scheint mehr zu sein als nur eine Geschäftsbeziehung, aber wie viel mehr? Und da ist auch noch Maya.
Shiva Baby ist das ambitionierte Debüt der sehr jungen Regisseurin/Drehbuchautorin Emma Seligmann, mit vielen Darstellern, die echte “Typen” sind. Wörtern wie “kaputt” “Mensch” und “Schmutz” werden ins Englisch-Jiddische eingeflochten. Es fallen Sätze wie “You’re projecting a lot of misogyny for a future women’s march organizer”. Ein bisschen fehlt es dem Film wohl noch an Feinschliff und Ordnung, aber dafür menschelt es mehr und ich ziehe ein solches Debüt einem aalglatten wie voriges Jahr Past Lives auf alle Fälle vor.