Jetzt habe ich Der Horizont von Patrick Modiano ausgeborgt, weil er dort von Jahreszeiten in Jahreszeiten schreibt, das fasziniert mich irgendwie.
Nämlich zum Beispiel:
“In welcher Jahreszeit war er bloß? (…) Wahrscheinlich Frühling im Winter, wie er die schönen Tage im Januar und Februar gerne nannte. Oder Sommer im Frühling, wenn es im April schon sehr heiß ist. Oder einfach Nachsommer, im Herbst – all diese Jahreszeiten, die miteinander verschmelzen (…)”
Patrick Modiano, Der Horizont, S. 164
Das hat mich an den Roman Der Himmel kennt keine Günstlinge (sperriger Titel) von Erich Maria Remarque erinnert, den ich in meiner Dissertation analysiert habe. Remarque schreibt da von einer jungen Frau, die unheilbar krank ist und der folgendes durch den Kopf geht:
“Sie hat keine Zeit für Wiederholungen (….)” viel mehr will sie “jetzt eine Stunde leben, aus meinem fünfzigsten Jahr – dann eine aus meinem dreißigsten, dann eine aus meinem achzigsten – alle in einem Tag, wie ich gerade Lust habe (…)”
Erich Maria Remarque, Der Himmel kennt keine Günstlinge, S. 237
Diese Stellen passen zusammen oder empfinde das nur ich so?
Und es passt auch ein bisschen dazu, was mir selbst manchmal durch den Kopf geht, wenn ich zum Beispiel mit geschlossenen Augen auf dem Sofa liege und nur auf die Geräusche von draußen höre. Kann man, so denke ich oft, nur anhand der Geräusche feststellen, in welcher Zeit man lebt? Was gerade so passiert auf der Welt? Haben sich die Geräusche draußen seit meiner Kindheit geändert? Die Motoren der Fahrzeuge, das Geschrei am Spielplatz, das Brummen der Flugzeuge, das Türenknallen, das Vogelgezwitscher? Und wenn ja, auf welche Weise?
Wenn man die Autorin Ottessa Moshfegh kennt, vielleicht das Buch Eileen gelesen oder den gleichnamigen Film gesehen hat, dann ahnt man natürlich, wenn “Ruhe und Entspannung” draufsteht, dann geht es wahrscheinlich um das genaue Gegenteil. Die Ausgangslage ist zwar diese, dass die Protagonistin für ein Jahr (2000-2001) in einen Dauerschlafzustand begeben will, um sich zu regenerieren und quasi “neu geboren” zu werden. Aber nachdem wir keine Bären, Murmeltiere oder Igel sind, schaffen wir das nicht auf eine physiologisch gesunde Art und Weise. Und wer, wie gesagt, Moshfegh kennt, ahnt, was kommt.
Das Cover ist super, weil es – wie der Titel – den Inhalt komplett konterkariert
Die Protagonistin von Mein Jahr der Ruhe und Entspannung schießt sich – nachdem sie eine “Therapeutin” gefunden hat, die sich ausschließlich der Medikamentenmedizin verschrieben hat – regelmäßig mit verschreibungspflichtigen Psychopharmaka, die teilweise auch noch kontraindiziert sind, ab. Natürlich nicht “einfach so”, es liegt eine schwere Depression dahinter; sie hatte eine lieblose Kindheit, dann sind die Eltern gestorben, der Lover war er Arsch, die Nebenjobs zum Studium bedeutungslos und der Sinn des eigenen Lebens will sich nicht einstellen.
Nun ist ja die Prämisse jemand will ein Jahr schlafen – fast das Gegenteil von Schlafes Bruder übrigens – vielleicht theoretisch interessant als Idee, aber funktioniert das als Roman, der ja eigentlich davon lebt, dass irgendwie doch auch erzählenswerte Dinge passieren? Meine Antwort: Nicht wirklich. Es sei denn, man hat einen Medikamentenfetisch, dann werden einen die seitenlangen Schilderungen der Wirkweise von Schmerzmittel und Barbituraten bezaubern. Sehr oft liest man auch detailiert, wie weggetreten und psychotisch die Protagonistin wird und ich fand das einerseits höchst unangenehm, weil ich selber Kontrollverlust durch Substanzen recht fürchte; andererseits aber auch ziemlich redundant und, ja, langweilig, obwohl Moshfegh gut schreibt.
Ein bisschen Abwechslung entsteht dadurch, dass es Rückblenden gibt, die Schilderungen der vereinzelten Besuche von der besten Freundin der Protagonistin und einmal verlässt sie das Haus länger, um ein Begräbnis zu besuchen. Die meiste Zeit aber versumpert sie in ihrer Wohnung, wird immer dünner und ungepflegter (bisschen Charlotte Roche Vibes hier) und man fragt sich, wie hält der menschliche Körper das aus? Gleichzeitig vermisst man aber jegliche Form von Tiefe oder “Analyse”. Ja, vermutlich ist das Absicht, weil die Protagonistin sich ja eben nicht mit ihren Problemen beschäftigen will, sondern diese ganz bewusst “wegschläft”. Konsequent, aber man bleibt als Leserin dann eben irgendwie ebenso leer zurück wie die Protagonistin.
Noch etwas, was ein bisschen mit Ein wenig Leben zu tun hat, aber nur im Ansatz.
Das Titelbild des Romans zeigt das Foto “Orgasmic Man” von Peter Hujar. Ich finde ja eher, dass es nach Schmerz aussieht, aber Schmerz und Lust liegt ja manchmal auch nahe beieinander. Jedenfalls lese ich so den Namen Peter Hujar und plötzlich hatte ich so ein Aha-Erlebnis.
Denn: Der Regisseur Ira Sachs bringt heuer noch einen Film names Peter Hujar’s Day heraus. Sein Film Passages hat mich vor zwei Jahren so begeistert, dass ich ihn bei unserer Uncut Filmwertung auf Platz 2 des Jahres 2023 gesetzt habe (nach Oppenheimer und im kompletten Kontrast zu diesem). Ich mag Sachs’ Themen, den Look seiner Filme und ich mag seine Art, Charaktere zu porträtieren (auch den Orsch Peter Rogowski in Passages, boah ich hab ihn so gehasst harhar) Und der Trailer von Peter Hujar’s Day hat mir ur gut gefallen. Nur dachte ich bisher, das wäre eine fiktive Person, was doch eher peinlich ist und eine Bildungslücke ausweist. Aber naja.
Eigentlich sollte Peter Hujar’s Day beim Queerfestival im Votivkino laufen, aber anscheinend hat man sich das anders überlegt. Ich hoffe sehr, dass er einen normalen Kinostart bekommt, weil er beleuchtet, Nomen est Omen, einen Tag im Leben von Hujar (dargestellt von Ben Whishaw, der auch in Passages dabei war, aber als Sympathieträger) – Peter Hujar trifft die Autorin Linda Rosenkrantz in ihrem Apartment und wird von ihr gebeten, minutiös alles zu protokollieren, was er am 18. Dezember 1974 gemacht hat.
Im Trailer sagt Whishaw als Hujar: “I often have a feeling that in my day nothing much happens and I wasted it”. Und Rosenkrantz antwortet: “That’s why I’m doing this actually, to find out how people fill up their day.”
Ich finde das so interessant, ich muss diesen Film unbedingt sehen.
Also bezüglich Trauma-Porn. Es geht in Ein wenig Leben vor allem um das Schicksal von Jude St. Francis und dieses Schicksal ist wirklich hart. Sein Leben als ausgesetzter Säugling ist bis zum Jugendalter gekennzeichnet durch schweren, wiederholten sexuellen und emotionalen Missbrauch, sowie durch erhebliche Körperverletzung, die aus ihm einen Versehrten machen. Diese Erfahrungen zerstören ihn so sehr, dass er sich als Erwachsener im Grunde selbst hasst und immer wieder, naja ritzt ist ein zu schwaches Wort, ich würde eher von Selbstverstümmelung sprechen, und das wird auch sehr ausführlich und detailliert geschildert.
Und hier liegt sowohl der extreme Erfolg, wie auch die große Kontroverse um diesen Roman begründet. Die einen finden das alles so tragisch, dass sie quasi mit dauerlaufendem Tränenfluss dieses Buch lesen, und teilweise auch irgendwie geläutert werden. Die anderen sehen sich manipuliert und meinen hier werde maßlos übertrieben. In der Sendung Das lesenswerte Quartett spricht Germanistin Insa Wilke von einem “populären Realismus”, in dem das außerordentliche gefeiert wird, um die formale Normalität zu überdecken. Also quasi, das Buch durch seine Übertreibung größer zu machen als es im Grunde wäre. Mir ist es, ganz ehrlich, auch zu viel gewesen und vor allem fand ich es enorm unglaubwürdig, dass Jude immer und immer wieder weiter missbraucht wird, durch jede neue Person, die in sein Leben tritt, jede Institution, auch solche, die ihn schützen sollten. Ich finde, Yanagihara hätte das gar nicht notwendig gehabt, weil ich die Art, wie sie erzählt, schon sehr gerne mag und ich denke, es hätte auch mit weniger drastischen Mitteln funktioniert.
Das Thema, bei dem ich persönlich länger hängengeblieben bin – und das auch kontrovers diskutiert wird – ist die Rolle der Freunde in diesem Roman. Die einen meinen, das ist so eine tolle Freundschaft, weil alle Jude unterstützen und für ihn da sind, also auch, wenn er sie mitten in der Nacht anruft und so weiter. Die anderen wiederum sind der Ansicht, dass es weniger Freundschaft als Co-Abhängigkeit wäre und irgendjemand Jude, der sich strikt gegen Psychotherapie wehrt, einmal hätte zwangseinweisen sollen, zu seiner Rettung. Stattdessen unterstützen sie ihn quasi eher in der Destruktivität. Das finde ich ein ganz schwieriges Thema – und wurde auch im Film Sterben voriges Jahr verhandelt. Weil was zählt mehr? Die Selbstbestimmung eines Freundes, auch – wenn man so will bis zu seinem sicheren Tod – oder die Einmischung in dessen Leben, zu seinem (scheinbaren) Wohle, was aber einer Entmündigung gleichkommt. Aber vielleicht ginge es ihm dann besser und er wäre mir dankbar dafür?
Die Autorin selbst “glaubt” offensichtlich nicht an Psychotherapie, bzw. will mit diesem Roman das Exempel statuieren, dass es Schicksale und Traumatisierungen gibt, die eben nicht therapiert werden können. Fair enough, aber die Alternative ist dann halt ziemlich dunkel, pessimistisch und im Grunde auch zerstörerisch. Oder ist es einfach realistisch? Ich bin da sehr nachdenklich geworden. Und insofern stimmt es schon, dass dieser Roman die Diskussion über sehr große Themen recht gekonnt anstößt.
So, jetzt habe ich Ein wenig Leben fertiggelesen und in einem Eintrag werde ich ein fast 1000 Seiten Buch nicht abhandeln können. Zumal ich jetzt draufgekommen bin, dass es tausende Podcasts, Think Pieces, Essays, etctera zu diesem extrem gehypten Roman gibt, wovon ich mir manches noch ansehen werde. Ich habe vorher ja gar nicht gegoogelt, weil ich mich nicht spoilern wollte.
Kurz der Inhalt, für alle, die das Buch nicht kennen. Es geht um vier Freunde in New York, die auf ihrem Lebensweg über 40 Jahre begleitet werden, aber ganz besonders um einen, Jude St. Francis, der im Mittelpunkt der Handlung steht und zwar #ausgründen.
ACHTUNG SPOILER MÖGLICH
Wie fange ich an? Erstens handelnde Personen. Also zunächst einmal weiß eh schon jeder, dass mir persönlich Diversität um der Diversität Willen nicht wichtig ist, weil es fast immer sehr aufgesetzt wirkt. Mir ist lieber, jemand erzählt von dem Umfeld, von dem er tatsächlich Ahnung hat. Aber bei Ein wenig Leben frage ich mich schon, warum eine (Rand)gruppe der Gesellschaft praktisch gar nicht stattfindet und zwar die Gruppe Frauen, harhar. Im Ernst: in diesem Buch kommen Frauen so gut wie überhaupt nicht vor. Ok, nicht alle der vier Männer sind heterosexuell, aber auch Homosexuelle kennen doch Frauen, haben irgendwie Frauen in ihrem Leben, als Freundinnen, Vertraute. Aber nicht in diesem Roman. Sie sind nur Randphänomene ohne eigenständige Stimme. Gottseidank ist die Autorin Yanagihara eine Frau, sonst wäre der Shitstorm unvermeidlich gewesen.
Zweitens, Fokus der Narration. Wenn man anfängt zu lesen, denkt man, es werde nun um die vier Protagonisten irgendwie gleichermaßen gehen, jeder wird ungefähr ähnlich viel Raum und Gewicht in diesem Buch bekommen. Auch das stimmt nicht oder nur am Anfang. Im Grunde geht es fast nur um Jude, dann noch etwas mehr um William, JB (Jean Baptist) kommt schon deutlich weniger vor, obwohl es am Anfang einen so interessanten Erzählstrang über ihn als Künstler gibt; und Malcom ist ohnehin eine Randnotiz. Ich weiß nicht, ob ich das aus expertimenteller Sicht interessant finden oder diese Herangehensweise als “messy” empfinden soll, weil mir die Eröffnung etwas ganz anderes verspricht. Vielleicht beides.
Drittens, Zeit der Handlung. Im Grunde kann nicht genau festgestellt werden, wann dieser Roman spielt. Es gibt zwar irgendwann Mobiltelefone und Computer, aber es kommen sonst keine Hinweise auf irgendwelche (Pop)kultur oder auf politische, gesellschaftliche Ereignisse, sodass man (oder zumindest ich), da Rückschlüsse ziehen könnte, in welchem zumindest Jahrzehnt wir uns jeweils befinden. Das kann man doof oder auch genial finden. Yanagihara erschafft hier quasi eine Welt, die wie unsere aussieht und funktioniert, aber uns sonst keine Bezugsmöglichkeit eröffnet. Technologisch betrachtet, sollten die 40 Jahre irgendwo in der Gegenwart enden, aber aufgrund von Judes Erlebnissen, tue ich mir schwer, diese in den späten 1960er oder frühen 70er Jahren zu verorten, aber tatsächlich muss es wohl so sein.
In Kürze dann: Was ist dran am Vorwurf, dass dieser Roman ein Trauma-Porn ist?
Ein kurzes Zwischenresümee zum Buch Ein wenig Leben. Also es ist echt ein Miseryporn, harhar.
Und ich bin ja eher nicht so der Fan von solchen Hiob-artigen Erzählungen, wo geschildert wird, wie orsch alles war und ist und sein wird. Aber der Roman ist einfach so gut geschrieben, dass ich immer weiterlesen muss. Kurz aber, auf Seite 449, wer selbst das Buch hat kann nachschauen, habe ich mir gedacht ok, ich kann nicht mehr, ich muss jetzt aufhören, es ist zu arg. Dieser Entschluss hat etwa fünf Minuten überdauert. Aber natürlich hat die Neugier gesiegt und ich bin mittlerweile auf Seite 690, also quasi eh schon im Endspurt, und ich habe keine Ahnung wie es ausgehen wird, ich gebe mal die Prognose ab, dass es kein happy end wird. Aber ich habe es bisher geschafft, absolut gar nichts dazu zu lesen.
Dann haben das Kind und ich heute bei diversen Nachprüfungen seiner Freunde mitgefiebert. Habe ganz vergessen, wie nervös man da wird. Es ist nicht alles gut ausgegangen, aber das tut es ja nie. Das Kind meinte traurig, jetzt gehe es seinem Freund wie mir. Ich: Das ist aber auch kein Trost. Zumindest nicht unmittelbar. Irgendwann ist es eh wurscht, aber das dauert.
Anschließend war ich mit dem Kind und seiner Freundin im Cafe Monarchie Eis bzw Schokopalatschinken essen. Puh, auch da Erinnerungen. Aber es war schön, da heute im Innenhof zu sitzen. Und es war schön, an damals zu denken….
Nicht nur Taika Waititi hatte Geburtstag, sondern auch M. Zu diesem Anlass waren wir heute in der Pizzeria im Wildgarten essen und es war schon wieder soo gut (unbezahlte Werbung)
Blick vom Mittagessen auf den wildromantischen Wildgarten
Wir haben (auch wieder) stundenlang über alles geredet und im Wasser waren wir auch noch. Ach herrlich.
Außerdem bin ich jetzt, wehmütig im mehrfachem Sinne, mit Stefan Zweig fertig geworden. Ich denke, ich werde das Buch bald wieder zur Hand nehmen, und Dinge nochmal lesen. Jetzt habe ich aber mit Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara begonnen. Ein Roman von fast tausend Seiten. Und wenn ich mich vor einigen Tagen noch großspurig gegenüber dem Lektorat von Verheiratete Frauen geäußert habe, so habe ich bei diesem Buch nach ungefähr 15 Seiten beschlossen: Ich muss mir eine Übersicht schreiben, weil sonst checke ich nie, wer wer ist. Harhar.
Das Buch hat vier männliche Protagonisten mit vier (tragischen) Backstories, alle sind gleich alt und befreundet und so brauche ich einfach Notizen. Da steht dann: Weiß, schwarz, schwarz, mixed. Architekt, Künstler, Schauspieler/Kellner, Jurist. Und da steht dann auch: Eltern tot, Vater tot, Eltern? Eltern reich. Harhar. Man muss echt gut aufpassen beim Lesen, aber was ich jetzt schon sagen kann, es ist wirklich unheimlich gut geschrieben.
Ich glaub, das wird noch sehr, sehr arg werden und ich bin so mittel darauf vorbereitet und ich nehme euch alle mit harhar.
Bei dieser Stelle über Kunst habe ich mich irgendwie soo wiedergefunden:
Hier dagegen machte man Kunst, weil es das Einzige war, was man konnte, das Einzige, womit man sich zwischen gedanklichen Kurzausflügen zu Dingen, an die alle dachten, wirklich beschäftigte. (…) Irgendwo in deinem Inneren ist immer deine Leinwand, ihre Formen und Möglichkeiten (…) Während der Arbeit an jedem Bild und jedem Projekt kam eine Zeit (…) in der dir das Leben jenes Bildes echter erschien als dein eigenes alltägliches Leben (…)
Ein wenig Leben, S. 43
Und so gehen sie vorbei, die letzten Sommertage und ein bisschen mag ich mich noch an sie klammern. Die Abschiede werden nicht leichter, nicht mal die banalen.
Eigentlich wollte ich heute schon früher in den Garten, aber das Kind fand es gerade so gemütlich zum Plaudern.
Also wurde es halb vier und bei 34 Grad in einer vollbesetzten U6 von Floridsdorf bis Niederhofstraße zu fahren ist auch ein besonderes Erlebnis. Ich musste daran denken, als ich mit dem damals kleinen Kind – er war so ungefähr fünf Jahre alt – in der U6 fuhr und zu ihm sagte, dass auf dieser U-Bahn Linie viele komische Leute fahren. Er meinte dann zu mir: “Aber vielleicht halten die Leute uns auch für komisch.” Ich musste lachen und ihm recht geben und habe mir damit abgewöhnt, irgendwelche stereotypen Platitüden zu verbreiten, zumindest versuche ich das. Tatsächlich war die Fahrt in der U6 heute aber eine Freakshow eine Ansammlung von sehr vielen verschiedenen Menschen mit sehr vielen verschiedenen Bedürfnissen.
Jetzt bin ich also da und kümmere mich um den Garten, die Oma ist weggefahren und am Wochenende ist Grillen und Pool und so weiter angesagt.
Außerdem habe ich mir schon wieder zwei Bücher gekauft, was ich anlässlich der gestern eingetrudelten Stromnachzahlung nicht tun sollte (harhar, war aber eh nicht ganz so schlimm wie befürchtet). Einerseits Ein wenig Leben von Hanya Yanagihara. Ich hab dem Buchhändler am Spitz einfach gleich den Screenshot des Namens gezeigt. Dieses Buch wird auf TikTok von irgendwelchen 20-Jährigen gefeiert, aber daher kenne ich es nicht, ich kenn es von einem zumindest etwas älteren Literatur-Influencer auf Insta, dem ich seit längerem folge. Diesmal hab ich außerdem das ganze erste Kapitel probegelesen und bin nun guter Dinge. Wäre auch nicht schlecht, wenn es mir gefällt, es hat fast tausend Seiten.
Andererseits, und irrer Kontrast, Die Welt von gestern von Stefan Zweig. Ich bin durchs Literaturmuseum vorige Woche wieder auf das Buch aufmerksam geworden, ich habe es tatsächlich noch nie gelesen. Und außerdem und vor allem lese ich es jetzt wegen jemand, der immer wieder davon erzählt hat. Ich brauch das irgendwie gerade, dasselbe zu lesen, was er mal gelesen hat.
Jetzt zu meinen Lektüreerfahrungen, das Buch Verheiratete Frauen von Cristina Campos betreffend.
Es geht, wen überrascht es, um drei verheiratete Frauen in den 40-igern, mit ihren Beziehungsproblemen und Affären und den Affären ihrer Partner, etcetera. Das Cover ist irrsinnig schön und beweist: ist das Cover gut und hat ein Buch einen interessanten Titel, dann falle ich selbstverständlich drauf rein, harhar. Ich habe schon auch ein paar Passagen gelesen, die ich gelungen fand, aber das waren halt auch nur Momentaufnahmen.
Leider hält der Roman nämlich inhaltlich nicht das, was er verspricht oder was ich mir erwartet habe. Ich nenne es Behauptungsprosa. Das bedeutet, es werden nicht Charaktere und Ereignisse beschrieben und der Leser oder die Leserin kann dann daraus seine oder ihre Schlüsse ziehen, sondern es werden Dinge behauptet, und ich kann es dann glauben oder nicht. Ich persönlich mag das nicht so gern, weil es irgendwie auch wenig Spielraum für Interpretationen lässt. Außerdem wimmelt es in dem Roman von schon zu oft gelesenen Metaphern und Vergleichen, vor allem bei den Softporn-Stellen *hust* Den Kitsch habe ich eh schon erwähnt. Hui, heute bin ich fies. Auf der Pro-Seite: Es ist immerhin so spannend, dass man wissen will, wie es weitergeht, so a la Reich und Schön.
Einen großen Fehler habe ich in dem Roman auch entdeckt. Nämlich am Anfang hat die Hauptfigur Gabi ein zweijähriges Kind und ihre Freundin Silvia hat ein Baby. Und viele, viele Seiten und viele Zeitensprünge und Perspektivenwechsel später, wird die Zeit erzählt, als Gabis Kind ein Baby war und das Kind von Silvia war da plötzlich schon im Kindergarten (??!) Nicht, dass es wirklich etwas mit der Handlung zu tun hätte, aber solche Dinge ärgern mich. Vor allem, weil ich – im Gegensatz zum Lektorat – nicht mit einer Timeline da sitze und das Buch akribisch auf solche Details hin durchforste und es mir trotzdem auffällt. Es gibt auch zwei, dreimal Sätze, wo die Namen der Freundinnen offensichtlich vertauscht wurden. Und hier und da ein paar Dinge, die ich zumindest wenig plausibel finde.
Aber es ist auch irgendwie egal, die Leute lieben das Buch offenbar und preisen es auf Amazon und anscheinend wollen viele (Frauen) genau so etwas lesen. Ich selbst schreibe halt überhaupt nicht so, oje, ich schreibe quasi am Markt vorbei, aber ich komm gut damit klar, harhar.
Nachdem ich darauf angesprochen wurde, noch ein bisschen Hintergrundinfo zum Literaturmuseum, weil es wirklich toll ist. Im dritten Stock ist immer die jeweils aktuelle Ausstellung zu sehen – schon dafür alleine kann man Stunden verwenden. Im ersten und zweiten Stock die Dauerausstellung zur österreichischen Literaturgeschichte. Im zweiten Stock von der Aufklärung bis 1918, im ersten Stock ab dann bis zur Gegenwart.
Wunderbare Orte in Wien, fast direkt nebeneinander, das Metro Kino und das Literaturmuseum
Sehr witzig ist, dass die Ausstellung gleich mit der Aussage von Friedrich Nicolai beginnt, einem Hauptvertreter der Aufklärung, dass die österreichische Literatur quasi nichts tauge. Gut, das war 1761. Dann gibt es eine ziemliche große Sektion über Franz Grillparzer (u.a. sein Arbeitszimmer). Hier habe ich mir angehört, was Konstanze Fliedl, bei der ich meine Diplomarbeit geschrieben habe, über Weh dem, der lügt zu erzählen hat – im ganzen Museum gibt es viele kleine Hörelemente. Weh dem, der lügt ist, wie man heute sagen würde, extrem gefloppt und Grillparzer hat danach keine Stücke mehr aufführen lassen. Das Scheitern wohnt den Schriftstellern auf die eine oder andere Weise ohnehin immer inne – auch Ferdinand Raimund, dem es ähnlich ging und der schließlich Suizid beging. Nestroy war eventuell etwas robuster.
Die Ausstellung ist in viele “Elemente” gegliedert, die sich teilweise natürlich auch überschneiden, so etwas wie “Die Ringstraße”, “Der Salon” – wo man auch dem Wiener Kreis wieder begegnen kann – “Der Börsencrash”, “Arbeiterbewegung” usw. Es gibt auch die Sektion “Ein Brief” und wenn man als Germanistin etwas von einem Brief liest, dann kann man nur an den einen denken, über den man wochenlang in irgendwelchen Seminaren gesprochen hat harhar, nämlich dem Chandos Brief von Hugo von Hoffmansthal. So lang ist dieser zwar nicht, beschäftigt sich aber mit Poetik und (der Grenze) von Sprache und kann deshalb nach Herzenslust analysiert und zerklaubt werden. Natürlich findet sich auch der Jedermann im Museum.
Der Fin de Siecle – meine Lieblingszeit in der Literatur – wird ausführlich behandelt, wobei ich mir mehr Schnitzler erwartet hätte. Immerhin gibt es eine schöne Wien-Karte, wo aufgezeichnet ist, in welchen Gegenden Leutnant Gustl herumgeirrt ist, vor seinem Duell mit dem Bäcker. Es gibt sehr viel Kafka und ich muss sagen, die Serie von David Schalko hat da echt sehr gut informiert. Ausgestellt ist der Brief an Max Brod, in dem Kafka ihn, Brod bittet, sein ganzes Werk zu vernichten. Wir wissen, wie das ausgegangen ist. Sidestep: Ich war ja immer dafür, dass Schalko jetzt eine Schnitzler Serie macht und nicht Braunschlag 2, aber mich fragt ja keiner.
Auch das Klimt-Fakultätsbild Die Medizin findet man hier, ich muss schon wieder an jemand denken.
Und sehr viel zur Kaffeehausszene und der sogenannten Kaffeehausliteratur:
Peter Altenbergs Allheilmittel für alles
Wir erfahren vom Brecht-Boykott, der unter anderem von Friedrich Torberg orchestriert wurde, ich muss mich da noch mehr in die Materie einlesen. Ein großer Teil ist dann noch Thomas Bernhard und Ingeborg Bachmann gewidmet. Auch der experimentellen Literatur wird Platz gegeben, aber mit der kann ich persönlich jetzt nicht so besonders viel anfangen. Das Ende bildet ein Überblick über die “Schreibprozess” von Schriftstellern, sammeln, notieren, anordnen, skizzieren, das fand ich sehr spannend.
Und auch wenn ich jetzt so viel geschrieben habe, so habe ich auch sehr viel vergessen. Es erfasst das Museum nur unzureichend. Wie gesagt, es ist wirklich einen Besuch wert (unbezahlte Werbung)