almis personal blog

Konfliktzone öffentlicher Raum

Ich denke, die Menschen die mich kennen, wissen, dass ich ein an sich recht gutmütiger und friedfertiger Mensch bin. Seit meiner Schwangerschaft habe ich aber so einige Eigenschaften dazubekommen, die ich vorher nicht unbedingt in diesem Ausmaß gekannt habe. Ich bin sentimentaler geworden, verletztlicher, aber irgendwie auch kaltschnäuziger und frecher. Ich kann heute etwas, was ich vorher nicht konnte: zurückreden.

Heute in der Straßenbahn konnte ich mich davon wieder überzeugen. Sohn und ich waren mit Oma am Friedhof und die Straßenbahnfahrt war lang. Das Kind war lebhaft, wollte nicht sitzen, rutschte auf dem Sessel herum, und war eben “hörbar”. Dann stieg ein älterer Mann zu und kaum zwanzig Sekunden später meinte er, mein Kind sollte mit dem herumrutschen auf dem Sessel aufhören (wohlgemerkt, er hat nichts schmutzig gemacht). Nachdem meine Mutter versucht hat, darauf neutral zu reagieren (ich hab vorerst nichts gesagt), hat er sich direkt an Adrian gewendet und geschimpft, dass er folgen sollte und ihm zuhören. Adrian bekanntermaßen nicht auf den Mund gefallen, sagte zwar nein, das tue er nicht (also ihm zuhören), er war aber merklich eingeschüchtert von dem Tonfall. Dann meinte der Mann, das Kind habe wohl gar keine Erziehung erfahren.

Tja und dann wars bei mir vorbei. Mein Gehirn wurde mit zuwenig Sauerstoff versorgt, der ganze Sauerstoff gelangte wohl in den Bauch und daraus wurde eine Riesenwut. Ich sagte sowas wie, das reiche jetzt, mein Kind hätte niemandem etwas getan und meine Erziehung ginge ihn nichts an. Dann meldete sich noch eine ältere Frau zu Wort, die mich als “phlegmatische Mutter” bezeichnete und, dass sie sich heute auch schon über zwei “Neger” ärgern musste. “Neger” und “phlegmatische Mütter”, offenbar ihre Feinbilder. Darauf sagte ich dann, dass es mich nicht wundern würde, dass die Menschen keine Kinder mehr bekommen wollen, wenn man dann wegen jeder Kleinigkeit in der Straßenbahn deppert angequatscht wird und, dass sie es bitte jetzt endlich zusammenhalten sollen. Gottseidank stiegen wir dann aus, ich will nicht wissen, was mir noch eingefallen wäre.

Vorneweg: ich bin nicht stolz auf meine Reaktion. Ich finde nicht, dass sie zur Generationen-Verständigung beigetragen hat. Ich war danach ärgerlich über mich selbst. Aber ich bin auch ärgerlich über die Vorstellungen, die manche Menschen über Kinder heute immer noch haben. Kinder sind vielfach nur dann im öffentlichen Raum geduldet, wenn sie nicht auffallen. Ich weiß nicht, was ich als Mutter tun soll, wenn mein Kind nicht ewig stillsitzt. Er ist lebhaft, ja, ich bin manchmal selbst erstaunt, wieviel Energien er besitzt und manchmal überfordert mich das auch, das gebe ich gerne zu. Aber ist es schlechte Erziehung, wenn sich ein Kind wie ein Kind verhält? Warum bin ich phlegmatisch? Weil ich ihn nicht festtackere oder ihm ein Klebeband über den Mund binde? Weil er offenbar nicht soviel Angst vor mir hat, dass er schweigend und stoisch seinen Platz einnimmt und kein Wort sagt, solange er nichts gefragt wird? Weil ich mich traue, weiterzufahren, anstatt auszusteigen und die nächsten zwei Kilometer zu Fuß zu gehen?

Ja, ich verstehe es, dass Kinder in öffentlichen Verkehrsmittel anstrengen können, gerade wenn man sie nicht gewöhnt ist. Aber es sind auch viele andere Fahrgäste anstrengend, die zb. müffeln, oder in ihr Handy schreien, sich lautstark streiten oder mit einem Koffer den Weg blockieren. Dennoch versuche ich das zu akzeptieren. Es sind doch meistens nur wenige Stationen, die man mit ihnen teilt. Ich muss mit diesen Menschen nicht mein weiteres Leben verbringen. Und etwas gegenseitige Toleranz und Rücksichtnahme ist meistens schaffbar. Mehr erwarte ich mir ja auch nicht. Und vor allem möchte ich nicht, dass jemand, der mich zwanzig Sekunden sieht, sich das Recht herausnimmt über mein Kind, mich, unser Leben zu urteilen.