Freitagabend hatten L. und ich Karten fürs Burgtheater. Es war einer der ersten richtig warmen Tage des Jahres und wir beschlossen, vorher ins Landtmann zu gehen, draußen zu sitzen, Suppe zu essen und uns mit Aperol abzufüllen. Harhar. Der Aperol war sehr stark, praktisch oder auch tatsächlich ohne Soda, wir torkelten dann ein bisschen ins Theater, was eh nicht so schlimm war, weil das direkt neben dem Landmann liegt.
Wir sahen Die Ärztin von Robert Icke. “Sehr frei”, wie es hieß “nach Professor Bernhardi von Arthur Schnitzler”. Professor Bernhardi aus dem Jahr 1912 ist eines der wenigen Werke von Schnitzler, das sich nicht mit der Psychologie von menschlichen Beziehungen (plus Duellen etc) beschäftigt, sondern mit Religion, Antisemitismus und Diskriminierung. Der jüdische Arzt Bernhardi verweigert einem katholischen Priester den Besuch einer (aufgrund einer missglückten Abtreibung) sterbenden jungen Frau, weil er sie in ihren letzten Minuten nicht in Panik vor dem Tod versetzen will. Die ganze Situation wird nach dem Ableben der Frau von Konkurrenten und Politik instrumentalisiert, die Motive von Bernhardi werden als religiös motiviert kritisiert, während er seine Entscheidung als rein humanistisch begründet rechtfertigt.
Bei Icke ist Bernhardi eine jüdische lesbische Frau, die Ärzteschaft ist divers, wobei die POC im Ensemble die Weißen spielen und die Weißen die POC, ein männlicher Darsteller ist eigentlich eine Frau und insofern könnte das Stück ja nicht zeitgenössischer sein, weil das Spiel mit den Identäten und die Wahl solcher ja der letzte heiße Scheiß ist. Ich bin ja nicht so ein Fan der Idee von 72 verschiedenen Geschlechtern, die man im Zweifel jährlich wechseln kann, aber im Stück funktioniert dieses Spiel schon ganz gut, weil es irritiert und zum Nachdenken anregt. Ich mag außerdem an dem Stück, dass es letztendlich wesentlich unplaktiver daherkommt, als man vermuten könnte und weil es sich eindeutiger Antworten verweigert.
Denn: Hat die Ärztin wirklich nur aus Empathie mit einer Sterbenden so gehandelt wie sie gehandelt hat? Oder hat sie, weil selbst säkulare Jüdin, zwar nicht dem Priester aufgrund der anderen Religion den Einlass verweigert, wohl aber deshalb, weil sie Religion insgesamt als unbedeutend im Leben ansieht? Und weil sie selbst, wäre sie an der Stelle des Mädchens gewesen, jegliche religöse Begleitung während ihrer letzten Minuten zutiefst verabscheut hätte? Ist sie wirklich nur und primär Ärztin, wie sie selbst sagt? Und: Geht es ihren Gegnern wirklich um das Schicksal des Mädchens oder ist der Vorfall nicht eher eine willkommene Gelegenheit für ihre Konkurrenten, ihre Karriere und ihren Einfluss zu beschneiden und sich selbst eine bessere Position zu verschaffen? Viel Stoff zum Nachdenken.
Im Juni nochmal am Burgtheater zu sehen (unbezahlte Werbung).
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