Liebe A! Der Sommer meiner Mutter hat mir wirklich gut gefallen.
Es ist immer interessant, wenn das Ende der Geschichte schon in der ersten Zeile verraten wird, nämlich hier, so: “Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.” Würde der Ich-Erzähler diese Tatsache nicht sofort verraten, sondern erst dann, wenn es passiert, es wäre ein ganz anderes Buch. Indem Autor Ulrich Wölk aber auf den massiven Jumpscare-Moment, der das zweifellos sein könnte, verzichtet, legt er die Aufmerksamkeit des Lesern sofort auf etwas anderes, nämlich darauf, zwischen den Zeilen zu lesen und auf die Fehlentwicklung zu achten, die in diesen fünf Monaten passiert – oder, die schon sehr lange geschieht, sich nun aber manifestiert.
Zuerst scheint nämlich alles doch ganz ok zu sein. Tobias Ahrens, der Sohn der besagten Mutter, ist ein elfjähriger Junge, dessen Eltern es im Jahr 1969 zu bescheidendem Wohlstand, inklusive Häuschen mit Garten, gebracht haben. Der Vater ist Ingenieur, was einen Rattenschwanz an Assoziationen hinter sich herzieht, die hier auch durchaus zutreffend sind. Es geht ziemlich sachlich, geordnet, beschaulich-betulich zu, im Haus Ahrens. Der Vater ist zwar Tobias zugewandt, seine Welt ist dennoch eng. Vielleicht ist die Mondlandung deshalb so faszinierend für Vater wie für Sohn, als eine Utopie des Ausbruchs.
Ausbruch ist auch für die Mutter ein Thema, die Hausfrau ist, noch nicht einmal 40, ihr Kind braucht sie immer weniger und langsam kommt sie drauf, dass es noch mehr geben muss, in ihrem Leben, als das, was bereits da ist, das Verwalten des Immergleichen. Sie spielt damit, sich eine Jeans zu kaufen, als quasi in ihrer Welt schon revolutionärer Akt, aber sie traut sich nicht. Da ziehen neue Nachbarn ins Nebenhaus, die Leinhards, deren Tochter Rosa ein Jahr älter als Tobias ist und die als Familie quasi genau das Gegenteil repräsentieren, oder, wie Rosa sagt: “Wir sind Kommunisten”.
Was dann passiert, ist irgendwie vorhersehbar und doch wieder nicht. Die Paare freunden sich an, ein bisschen wird geflirtet und Mutter Leinhard demonstriert Mutter Ahrens was das Leben noch alles so bieten könnte, zum Beispiel eine Tätigkeit als Übersetzerin aufzunehmen, die Spaß macht und herausfordert und zugleich eigenes Geld einbringt. Es besteht auch darin, wild gemusterte Blusen zu tragen, schon am Vormittag Sekt zu trinken und manchmal ein bisschen “unvernünftig” zu sein. Dasselbe versucht Rosa auf ihre Art auch Tobias beizubringen.
Dennoch entwickelt sich die Geschichte dann anders als man vermuten könnte und mir persönlich erzählt sie davon, dass es, um es salopp zu sagen, Quatsch ist, dogmatisch an irgendwelchen Idealen festzuhalten, seien es nun traditionelle oder (vermeintlich!) liberale. Ja, auch die “frei” denkende Familie Leinhard lebt im Grunde nicht ihr eigenes Leben, sondern das, was ihnen von ihrer “Denkschule” vorgegeben wird und befindet sich, so gesehen, lediglich in einem anderen, etwas bunterem Gefängnis. Die Zwänge mögen unterschiedlich sein, sie behindern aber da wie dort, eine tatsächlich selbstbestimmte Entwicklung und das eigenständige Denken. Für das “Problem”, vor dem am Ende alle stehen, findet deshalb auch niemand eine Lösung.
Ein gut geschriebener, leicht lesbarer, durchaus auch ernüchtender Blick auf das Familienleben und seine (selbstgesteckten) Grenzen.