almis personal blog

Der Sommer meiner Mutter

Liebe A! Der Sommer meiner Mutter hat mir wirklich gut gefallen.

Es ist immer interessant, wenn das Ende der Geschichte schon in der ersten Zeile verraten wird, nämlich hier, so: “Im Sommer 1969, ein paar Wochen nach der ersten bemannten Mondlandung, nahm sich meine Mutter das Leben.” Würde der Ich-Erzähler diese Tatsache nicht sofort verraten, sondern erst dann, wenn es passiert, es wäre ein ganz anderes Buch. Indem Autor Ulrich Wölk aber auf den massiven Jumpscare-Moment, der das zweifellos sein könnte, verzichtet, legt er die Aufmerksamkeit des Lesern sofort auf etwas anderes, nämlich darauf, zwischen den Zeilen zu lesen und auf die Fehlentwicklung zu achten, die in diesen fünf Monaten passiert – oder, die schon sehr lange geschieht, sich nun aber manifestiert.

Zuerst scheint nämlich alles doch ganz ok zu sein. Tobias Ahrens, der Sohn der besagten Mutter, ist ein elfjähriger Junge, dessen Eltern es im Jahr 1969 zu bescheidendem Wohlstand, inklusive Häuschen mit Garten, gebracht haben. Der Vater ist Ingenieur, was einen Rattenschwanz an Assoziationen hinter sich herzieht, die hier auch durchaus zutreffend sind. Es geht ziemlich sachlich, geordnet, beschaulich-betulich zu, im Haus Ahrens. Der Vater ist zwar Tobias zugewandt, seine Welt ist dennoch eng. Vielleicht ist die Mondlandung deshalb so faszinierend für Vater wie für Sohn, als eine Utopie des Ausbruchs.

Ausbruch ist auch für die Mutter ein Thema, die Hausfrau ist, noch nicht einmal 40, ihr Kind braucht sie immer weniger und langsam kommt sie drauf, dass es noch mehr geben muss, in ihrem Leben, als das, was bereits da ist, das Verwalten des Immergleichen. Sie spielt damit, sich eine Jeans zu kaufen, als quasi in ihrer Welt schon revolutionärer Akt, aber sie traut sich nicht. Da ziehen neue Nachbarn ins Nebenhaus, die Leinhards, deren Tochter Rosa ein Jahr älter als Tobias ist und die als Familie quasi genau das Gegenteil repräsentieren, oder, wie Rosa sagt: “Wir sind Kommunisten”.

Was dann passiert, ist irgendwie vorhersehbar und doch wieder nicht. Die Paare freunden sich an, ein bisschen wird geflirtet und Mutter Leinhard demonstriert Mutter Ahrens was das Leben noch alles so bieten könnte, zum Beispiel eine Tätigkeit als Übersetzerin aufzunehmen, die Spaß macht und herausfordert und zugleich eigenes Geld einbringt. Es besteht auch darin, wild gemusterte Blusen zu tragen, schon am Vormittag Sekt zu trinken und manchmal ein bisschen “unvernünftig” zu sein. Dasselbe versucht Rosa auf ihre Art auch Tobias beizubringen.

Dennoch entwickelt sich die Geschichte dann anders als man vermuten könnte und mir persönlich erzählt sie davon, dass es, um es salopp zu sagen, Quatsch ist, dogmatisch an irgendwelchen Idealen festzuhalten, seien es nun traditionelle oder (vermeintlich!) liberale. Ja, auch die “frei” denkende Familie Leinhard lebt im Grunde nicht ihr eigenes Leben, sondern das, was ihnen von ihrer “Denkschule” vorgegeben wird und befindet sich, so gesehen, lediglich in einem anderen, etwas bunterem Gefängnis. Die Zwänge mögen unterschiedlich sein, sie behindern aber da wie dort, eine tatsächlich selbstbestimmte Entwicklung und das eigenständige Denken. Für das “Problem”, vor dem am Ende alle stehen, findet deshalb auch niemand eine Lösung.

Ein gut geschriebener, leicht lesbarer, durchaus auch ernüchtender Blick auf das Familienleben und seine (selbstgesteckten) Grenzen.

Sommerpläne 3

Obwohl das Wetter ja derzeit nicht so extrem sommerlich ist, habe ich natürlich noch weitere Pläne. Ich möchte mir eine oder zwei O-Töne Lesungen im Museumsquartier anhören, ich möchte nochmal ins Literaturmuseum und mir diesmal den “Rest” anschauen und ich möchte die (wahrscheinlich wieder eher kleine) Ausstellung über den Wiener Kreis im Rathaus besuchen.

Außerdem will ich hin und wieder mit dem Kind essen gehen, auch vor oder nach seiner Fahrschule, im Moment steht das total im Mittelpunkt. Heute hatte er übrigens die erste Fahrt und er ist (es ist nicht wirklich überraschend) begeistert. Allen Frauen, die derzeit mit ihren Kleinkindern kämpfen und verzweifeln, sei gesagt: Es wird richtig cool, wenn man irgendwann gemeinsam mit dem fast erwachsenen Nachwuchs in die Pizzeria geht und über Welt, Politik, Menschen und Formel 1 (Nico Hülkenberg nach 239 Rennen erstmals am Podium, das sagt uns wiedermal: niemals aufgeben!) reden kann. Das war ja immer so meine Traumvorstellung, wenn ich vollkommen mit meiner Kleinkind-Mutterschaft überfordert war und das war ich oft, harhar. Einfach mal ruhig sitzen und miteinander reden. Natürlich wird es auch sonst einige Frühstücks- und Essenstreffen mit Freundinnen geben.

Bald wird das Kind auf Urlaub sein und das wird meine Roman-Überarbeitungszeit werden, und ein paar Ecken von Wien aka “Schauplätze” muss ich auch noch recherchieren, wie es dort riecht und wie die Sonne steht und was ich fühle, wenn ich da bin. Das habe ich ja gerne, so Rechercheausflüge, ein paar Fotos machen und ein paar Sätze in mein Notizbuch kritzeln; schwieriger wird es, sich vor 280 Seiten zu setzen und sie auf Stringenz zu überprüfen, festzustellen, wo noch Informationen fehlen und wo etwas zu viel oder sogar doppelt ist usw.

Das Schreiben ist mein Urlaub, meine Therapie, mein Glück und meine Möglichkeit, jemandem immer wieder nahe sein zu können. Und darauf freue ich mich besonders.

Punch-Drunk Love

Vor einigen Tagen habe Punch-Drunk Love von Regiesseur Paul Thomas Anderson angesehen, den ich zufällig auf Netflix entdeckt habe. Weil mich dieser Film an wunderbare Gespräche mit diesem einen Menschen erinnert und er den Film mochte. Ich habe viele Filme von Anderson gesehen, den aber bisher nicht.

In Punch-Drunk Love geht es um Barry (Adam Sandler), einen Jungunternehmer mit sieben Schwestern, und einer nicht näher definierten oder gar diagnostizierten psychischen Beeinträchtung, die sich unter anderem in einem Wechsel an betont höflichen Umgangsformen und unkontrollieren Wutausbrüchen äußern. Eines Tages lernt er Lena (Emiliy Watson) kennen, eine Arbeitskollegin einer seiner Schwestern und er verliebt sich in sie…

SPOILER, ABER DER FILM IST SCHON ETWAS ÄLTER

Wer glaubt, dass es sich hierbei um eine herkömmliche romantische Komödie handelt oder, dass PTA eine solche überhaupt drehen würde, der irrt natürlich ganz massiv. Punch-Drunk Love ist von der ersten bis zur letzten Szene extrem seltsam, wie es sich für eine PTA Film gehört und zeigt uns, was man sonst halt eher nicht sieht, in Liebesfilmen. Vor allem das, was quasi zwischen den Treffen von Barry und Lena passiert, in Barrys Leben. Und da passieren eine Menge Dinge, die im Grunde gar nichts miteinander zu tun haben.

Wir beobachten Barry vor seinem funktional-hässlichen Firmengebäude im San Fernando Valley, wo die Sonne so hell scheint, wie sie das nur ganz früh am Morgen tut, und plötzlich steht ein Harmonium vor ihm, das er ohne weitere Erklärung mit sich nimmt. Wir nehmen verblüfft zur Kenntnis, dass Barry alle paar Minuten von einer Schwester angerufen wird, eine Mischung aus Fürsorge und Kontrolle. Wir sehen Barry, wie er widerwillig eine Familienfeier besucht und als er die Tür öffnet und hört, was gesprochen wird, die Tür gleich wieder (von außen) zumacht.Wer kann es ihm verdenken? Er geht aber dann doch hinein und vertraut sich einem seiner Schwager, einem Arzt, an, er sagt: “I don’t like myself sometimes. Can you help me?” Und der Schwager: “Barry, I am a dentist.” Wie sehen Barry im Supermarkt, wo er dutzendweise billigen Pudding kauft, mit dem er Vielfliegermeilen sammeln will. Mit diesen Vielfliegermeilen beschäftigt er sich ausführlicher als mit seinen Gefühlen zu Lena.

Interessant ist, dass Barry die ganze Zeit einen auffälligen, blitzblauen Anzug trägt, jeden Tag, den er aber davor, so sagen seine Schwestern, noch nie getragen hat. Das finde ich insofern bemerkenswert, als dass wir als Zuschauer Barry somit visuell ganz anders erleben, als ihn die Menschen in seinem Leben bisher wahrgenommen haben. Lena sieht etwas in ihm, das sie fasziniert und bezaubert, auch wenn er mit blutenden Händen, weil er gerade das Gäste WC eines Restaurants kurz und klein geschlagen hat, an den Tisch zurückkommt. Und wir als Zuseher bemühen uns, genau das auch zu sehen, was sie sieht. Mit ihren Augen. Oder fragen wir uns vielleicht auch manchmal ein bisschen, was ist eigentlich mit ihr los, dass sie sich von ihm angezogen fühlt?

Um es kurz zu machen: So richtige Antworten bekommt man nicht. Man kann sich nur mitreißen lassen, entführen in die durch und durch merkwürdige PTA Welt, und kann genießen, dass Adam Sandler, den man nicht unbedingt aus den alleranspruchsvollsten Filmen kennt, hier wirklich gut, nuanciert und höchst glaubwürdig einen (nennen wir es mal) Soziophobiker spielt. Der Kritiker Roger Ebert hat sich damals, vor über 20 Jahren, einen neuen Karriereweg für Sandler gewünscht, so ein bisschen Bill Murray mäßig, wenn man so will. Ganz ist das nicht aufgegangen. Aber so alle zehn Jahre, heißt es, macht Sandler einen wirklich guten Film harhar. Mit Uncut Gems war er vor fünf Jahren sogar in der Nähe einer Oscar-Nominierung. Die kommt auch noch. So in fünf Jahren.

Sommerpläne 2

Ein Posting von A. auf Instagram, führt mit zu meinen Sommerplänen, Teil 2. Sie hat nämlich das Buch Der Sommer meiner Mutter empfohlen, ich habe gegoogelt, ob es das in meiner Bücherei gibt und habe es mir dann, gleich mit noch drei weiteren Büchern, ausgeborgt. Alles wieder einmal unbezahlte Werbung.

Nachdem ich sie in der Bücherei entliehen hatte, musste ich länger auf den Bus waren, und habe Der Sommer meiner Mutter an der Haltestelle zu lesen begonnen, als mich irgendwann eine mir unbekannte Frau antippte und meinte, ob ich nicht mitfahren will, der Bus wäre jetzt da, das Buch scheint ja sehr spannend zu sein, harhar. Ja, gibt’s ein besseres Zeichen?

Was hat das mit meinen weiteren Sommerplänen zu tun, nun die sind (auch) lesen. Vom Julie Zeh Buch erwarte ich mir eloquente Renitenz harhar, ich mag sie und ihre Ansichten sehr. Den Roman von Vera Zischke habe ich auch bei jemanden von Insta gesehen, es geht um ein Thema, an dem sich schon viele Autorinnen abgearbeitet haben, nämlich wie das geht Frau und Mutter gleichzeitig sein, aber ich gebe solchen Romanen trotzdem immer wieder eine Chance. 22 Bahnen wiederum hab ich mir vor allem wegen L. ausgeborgt, wir wollen den Film, der darauf beruht, im Herbst ansehen.

Ich möchte mir auch noch zwei oder drei neuere Bücher kaufen, einfach so, wegen der Urlaubsstimmung, ohne in Urlaub zu fahren. Ich habe da Alles wovor ich Angst habe, ist schon passiert im Auge, was ich mir bei meinem letzten Buchkauf schon fast ausgesucht hätte. Klingt ja voll nach Urlaubsfeeling, oder? Harhar. Ich finde den Titel aber super. Ich möchte gerne wissen, was andere Menschen tun, wenn das Leben sie einmal so richtig aus der Spur geworfen hat.

Außerdem möchte ich mir ein Buch von Bachmann Juror Philipp Tinger aussuchen, einfach weil ich jetzt auch wissen will, wie er schreibt. Das wird sicher irgenwas hippes aus Berlin sein und mal sehen, wie mir das gefällt. Dazu noch den Briefwechsel zwischen Ingeborg Bachmann und Heinrich Böll, der Was machen wir aus unserem Leben heißt.

Ziemlich spannend finde ich auch etwas ganz anderes, nämlich Sprechende Fassaden von dem diese Woche leider verstorbenen “Fassadenleser” Klaus-Jürgen Bauer. Das brauche ich, im weitesten Sinne, auch aus Recherchezwecken, wegen meines eigenen Buchprojekts.

Le Meraviglie

Wie angekündigt, habe ich beim italienischen Filmfestival im Votivkino auch noch den dritten Film aus der Land-Trilogie von Alice Rohrwacher gesehen, chronologisch ist das der erste Teil, Le Meraviglie (Die Wunder), aus dem Jahr 2014.

In diesem Film geht es um eine Familie von Bienenzüchtern in der Toskana. Vater Wolfgang (Sam Louwyck), ursprünglich aus Deutschland, schafft es mit seinem Gewerbe eher schlecht als recht, seine Familie, bestehend aus seiner Frau Angelica (Alba Rohrwacher) und seinen vier Töchtern über Wasser zu halten. Sie sind immer von der Delongierung bedroht. Am Strand sehen sie einmal zufällig Dreharbeiten zu einer Realityshow, die nach Familien sucht, die regionale Produkte erzeugen. Die älteste Tochter Gelsomina (Maria Alexander Lungu) ist von der Moderatorin Milly (Monica Belluci) angetan und möchte ins Fernsehen. Wolfgang ist strikt dagegen, obwohl sie das Geld, das auf einen Gewinn der Show steht, sehr dringend brauchen würden…

Le Meraviglie ist sicher der am wenigsten ausgereifte und unzugänglichste Film dieser Trilogie, obwohl er schon alle Ingredenzien hat, die auch die späteren Werke von Rohrwacher auszeichnen.

Zum einen die naturalistische Schilderung des Landlebens und hier besonders der Armut, die sich vor allem in sehr einfacher Kleidung, dem desolaten Wohnhaus, einer gewissen Verwahlosung zeigt. Zum anderen gewisse surreale Elemente: Die Betten stehen immer wieder mal mitten auf dem Hof und die Familie wacht dann dort auf. In der Umgebung wird geschossen, es wird aber nie klar, warum. Einmal kauft der Vater ein Kamel, das dann am (auch kaputten) Karussell der Kinder angebunden wird. Und auch wieder das Märchenhafte: Belluci als “bezaubernde” Moderatorin, verkleidet als eine Art Nixe, seltsam faszinierend.

Aber Rohrwachers Stil schafft es hier noch nicht so wirklich, auf den Punkt zu kommen, was in manchen Reviews etwas euphemistisch als “Befreiung von narrativen Zwängen” bezeichnet wird, harhar so kann man es auch sagen. In anderen heißt es, es wäre “too understated” und dem muss ich mich anschließen. Mir ist das auch etwas zu dahintreibend gewesen, die Elemente der Erzählung stehen recht ungewichtet nebeneinander. Mich hat es daher nicht so in den Bann gezogen werden, wie Lazzaro Felice, wo ich weinen musste. Obwohl auch hier vieles sehr tragisch ist. Vor allem habe ich eine extreme Abneigung gegenüber dem Vater empfunden, der so richtig unsympathisch und derb der ganzen Familie das Leben zur Qual macht. “Non rompere” quasi sein Kommentar zu allem, “Geh mir nicht am Arsch auf die Nerven.”

Eine richtige Zuneigung scheint er nur zu Gelsomina zu empfinden, aber auch diese Beziehung wirkt ungesund, weil er Gelsomina -den Namen kenne ich persönlich nur als den der enorm tragischen Hauptfigur in Fellinis La Strada– in die Rolle des eigentlichen Familienoberhauptes drängt, die überall mitanpacken, alles (mit)entscheiden soll, die auch alle ganz offensichtlich als die intelligenteste und patenteste Person der ganzen Familie empfinden. Manchmal nimmt sie die Bienen in den Mund und lässt sie von dort wieder hinauskrabbeln. Das hat mich ein bisschen an meinen Opa erinnert, der das mit einer brennenden Zigarette machen konnte, sie komplett im Mund verschwinden und dann wieder auftauchen zu lassen, ohne sich wehzutun oder sie damit auszulöschen (bevor er das Rauchen aufgegeben hat).

Maria Alexandra Lungu als Gelsomina ist wunderbar, auch die etwas kleinere Schwester Marinella (Agnese Graziani), die, wie man in Wien sagen würde, eine richtige “Düsn” ist. Sie braucht nur auf gewisse Art und Weise dreinschauen und das Publikum lacht. Ansonsten noch eher ein, wenn auch interessantes, Experimentierfeld.

TDDL 25, zwei

Beim Text Die Jäger von Chitwan von Verena Stauffer hab ich mir gedacht, ich verstehe die Geschichte irgendwie überhaupt nicht. Etwas peinlich, aber kann ja mal passieren. Gott sei Dank bin ich keine Jurorin.

Umso witziger war es, dass Juror Philipp Tingler zu Klaus Kastberger, der die Autorin eingeladen hat, gesagt hat: Ich möchte eine schlichte Frage stellen. Worum geht’s? Harhar

Kastberger daraufhin: Heiner Müller hat einmal gesagt, wenn ich Welt-Unterrichtsminister wäre, würde ich die eine Frage verbieten lassen und zwar die Frage “Was will der Text uns sagen?”

Daraufhin entspann sich eine halbwegs hitzige Diskussion zwischen den Juroren, in der Jurorin Brigitte Schwens-Harrant den schönen Satz sagte: “Ich habe nichts gegen Sätze.” Man einigte sich darauf, dass dieser Text eine Diskursfläche im Elfriede Jelinek’schen Sinne ist.

Am Ende dann wieder Philipp Tingler: Ich möchte fürs Protokoll festhalten, vielleicht ist das eine altmodische, aber meine unumstößliche Überzeugung, dass sich ein literarischer Text die Frage gefallen lassen muss, “Worum geht es?”

Thomas Strässle: Wenn man eine Lehre ziehen will, alles hängt mit allem zusammen und alles kann in alles umschlagen.

Tingler: Aber wussten wir das nicht schon vorher?

Strässle: Wir ahnten es.

Harhar, das ist meine Art von Diskussion, ich finde das höchst amüsant. Und ja, ich bin da auch altmodisch.

TDDL 25, eins

Die Bachmannpreisträgerin von 2021 Nava Ebrahimi hat gestern mit dem Text Drei Tage im Mai den heurigen Bewerb, die Tage der deutschsprachigen Literatur, eröffnet, und ich hab mit dem Text so viele Probleme – ein nicht ganz unerhebliches davon ist, dass der Text sich überhaupt nicht mit Literatur beschäftigt – dass ich das mal gesondert behandeln muss.

Kommen wir stattdessen zur allseits beliebten Bachmannpreis Bingo Karte dieses Jahres:

Sehr hübsch wieder, ich bin auch immer neidisch auf Mara Delius wegen des Colas harhar, und diesen Punkt kann man tatsächlich schon abhaken.

Was ich bei dieser Bingokarte noch ergänzt hätte, wäre “Prätentiöses Vorstellungsvideo einer Autorin/ eines Autors”. Hätte man heute auch bereits (mehrfach) gehabt. Mir ist schon klar, jede und jeder möchte sich von seiner besten Seite zeigen und in die fünf Minuten alles reinpacken, aber es ist halt oft einfach viel zu gewollt und anstrengend.

Am heutigen ersten Lesetag wurde gleich bei der ersten Autorin Fatima Khan darüber reflektiert, was man bei Literatur in Briefform bedenken muss. Sowas ist ja immer so eine Art Germanistikseminar (in humorvoll) und ich liebe das natürlich total. Hier ging es darum, dass man einen Brief an jemandem schreibt und nicht über jemanden. Sprich: Wenn man den Lesern etwas erzählen will und diese Informationen in den Brief hineinpackt, der Adressat diese Informationen aber schon hat. In dem Fall ging es um Aspekte des islamischen Glaubens, die man den Lesern näherbringen will, nachdem der Vater (als Adressat) aber ein Islamwissenschafter ist, muss man diese ihm ja nicht erklären – was die Autorin aber teilweise gemacht hat.

Es fielen aber auch schöne Sätze wie “Ich bin in einem salzarmen Haushalt großgeworden” und “Über eine Familie wie unsere werden normalerweise keine Bücher geschrieben.” Oder nachdenkenswert, die Protagonistin ist Kunsthistorikerin: “Erinnerung ist eine Form von Architektur”.

Replik von Juror Klaus Kastberger: “Ich hätte mir in diesem Text mehr Sichtbeton gewünscht” harhar schön.

Sommerpläne 1

Mit dem Schulschluss naht auch der Sommer und wie immer fahre ich nicht weg. Ich habe vor, das kulturelle Programm in Wien zu nutzen, vor allem das Sommerkino in seinen verschiedenen Ausprägungen (unbezahlte Werbung), ich weiß, das kommt jetzt sehr überraschend.

A. hat ich gefragt, ob wir uns vielleicht etwas bei Kino wie noch nie ansehen. Das ist das Sommerprogramm vom Metro – und im Nonstop Kinoabo inbegriffen. Die Filme fangen bei Einbruch der Dunkelheit im Augarten an und sind am Tag darauf nochmal im Metrokino zu sehen. Das Flair im Augarten ist sicher super, allerdings hab ich immer das Problem der späten Beginnzeit, da ist die Heimfahrt manchmal schwierig. Die Filmauswahl scheint keinem bestimmten Konzept zu folgen. Es gibt aktuelle Filme, schon älteres und auch österreichisches.

Das Votivkino bringt heuer wieder sein, zumindest bei mir, sehr beliebtes Was Wir Lieben. Da wählen die Kinomitarbeiter selber ihre Lieblingsfilme aus, die dann gezeigt werden. Jedes Jahr hoffe ich auf La La Land. Im Juli ist es heuer zumindest noch nicht dabei, obwohl ich es hier schon mehrfach vorgeschlagen habe, tsts. Und außerdem, wenn wir schon dabei sind, was lieben wir eigentlich an Everything Everywhere All At Once oder Tree Of Life? Also ich persönlich ja nichts harhar, aber gut, man kann natürlich nicht alles super finden. Ich interessiere mich dafür besonders für Rear Window von Hitchcock, den ich tatsächlich noch nie (!) gesehen habe und Portrait Of a Lady On Fire.

Dann gäbe es noch Kino am Dach, da gibt es auch (Liebesfilm)Klassiker, die man auf Instagram mitwählen konnte, vornehmlich aber recht aktuelle Filme, weshalb ich sehr viel schon kenne, anderes sowieso auch bisher nicht sehen wollte (harhar) es gilt hier aber auch kein Nonstop-Abo. Das Gartenbaukino haut vor seiner Sommerpause einfach noch schnell random Barry Lyndon von Stanley Kubrick raus, und das ist schon ziemlich super. Ich habe den Film vor langer Zeit einmal gesehen, und es geht mir wie dem Protagonisten aus Hanekes Amour: “I don’t remember the film. But I remember the feeling”. Und das war gut, das Gefühl.

Ein paar neue Filme laufen im Sommer auch an, unter anderem The Materialists von Celine Song, für deren Erstling Past Lives ich mich weniger erwärmen konnte, als ich das erwartet hatte und das hier ist auch wieder eine Dreiecksgeschichte. Außerdem der “Corona Western” Eddington von Ari Aster. Und Aster in Kombination mit diesem ähm Genre, das macht mir schon etwas Angst.

Jedenfalls gibt es reichlich Filmauswahl, auch im Sommer.

Kleines Interview

In meiner persönlichen Recherche zu Lazzaro Felice hab ich ein ur tolles Interview mit Regisseurin Alice Rohrwacher und Josh O’Connor gefunden. O’Connor, den ich erstmals in Challengers gesehen und sofort einen Faible für ihn entwickelt habe, hat im Nachfolgefilm La Chimera die Hauptrolle gespielt und dafür Italienisch gelernt. Und wie es dazu kam, erzählen sie in diesem Interview.

O’Connor ist ja Engländer und schon relativ bekannt, würde ich sagen. Er hat (den jungen) Charles in The Crown gespielt und wurde auch schon als möglicher James Bond gehandelt. In diesem Interview erzählt er, dass er Happy as Lazzaro gesehen hat und wusste, er muss mit Rohrwacher arbeiten. “She makes my favorite movies”. Er hat seinen Agenten gesagt, er müsse mit ihr in Kontakt treten und dieser darauf nur “Good luck” harhar. Es waren keine Kontaktinformationen zu finden. So hat O’Connor ihr immer wieder Briefe geschrieben, adressiert an: Alice Rohrwacher, Umbria, Italy, “I hoped, the postman would find it.”

Irgendwann kam es zu einem Zoom Call, Rohrwacher war gerade dabei, die Hauptrolle in La Chimera zu besetzen, aber ihr Portagonist war älter konzipert als O’Connor eben ist. Nach dem Gespräch war sie sich aber sicher, er ist es. Und seitdem lieben sich beide wechselseitig sehr, wie man beim Interview sehen kann, harhar. Bei den Filmen gehe es so familär zu, es werde quasi gemeinsam gelebt, es gäbe “the best food” und Rohrwacher will am liebsten alle Darsteller, mit denen sie gearbeitet hat, wieder besetzen, daher gäbe es bei La Chimera schon an die 50 Charaktere.

O’Connor sagt: “She encourages you to not look at what a straight forward character might think in any moment. Instead what are the secrets? What aren’t we showing? What is he feeling what maybe we don’t have to show?”

Genauso habe ich seinen Charakter in La Chimera empfunden. Von mir aus können sie noch viele Filme zusammen drehen.

Lazzaro Felice

Lazzaro Felice (Glücklich wie Lazzaro) ist, wie gesagt, der zweite Teil von Alice Rohrwachers Landleben Trilogie.

Es geht um ein Arbeiterkollektiv in einer italienischen Provinz, der genaue Ort und die Zeit wird nicht ganz klar, das für die unerbittliche Marchese de Luna (Nicolette Braschi, btw. die Ehefrau von Roberto Benigni) die Tabakernte erledigt und auch sonst das Land bewirtschaftet. Sie werden für ihre Dienste nicht bezahlt, nachdem dieser Teil durch eine lange zurückliegende Flut vom Rest des Landes getrennt wurde, weiß niemand, dass die Leibeigenschaft längst verboten worden ist. Lazzaro (Adriano Tardiolo) ist einer von ihnen, der so gutmütig, dumm, naiv oder einfach menschlich ist, dass er von denen, die versklavt sind, wiederum “versklavt” und herumgestoßen wird. Doch eines Tages freundet er sich mit dem Sohn der Marchesa, Tancredi, an und sein Leben nimmt eine Wendung…

ACHTUNG HIER FOLGEN WIRKLICH MASSIVE SPOILER, WEIL MAN SONST ÜBER DEN FILM NICHTS SCHREIBEN KANN. ICH HABE EUCH GEWARNT!

Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll, es gibt so viel zu diesem wunder-wunderschönen Film zu sagen. Zunächst Lazzaro. Er ist eine Figur irgendwo zwischen Forrest Gump und Till Eulenspiegel. Er versteht keine Zweideutigkeiten und keinen Zynismus, er nimmt alles, was ihm gesagt wird, wortwörtlich. Und das würde ihn in laufend ins Unglück stürzen, wenn er nicht so ein grundehrlicher, aufrechter Mensch wäre, der sich einfach an allem erfreuen kann. Auch daran, von den anderen permanent gebraucht zu werden, er sieht es nicht als Ausnützen an. Nur die junge Antonia scheint sich ehrlich für ihn zu interessieren. Manchmal steht er einfach so eine halbe Stunde im Regen und schaut in die Welt. Er ist innerhalb von sonderbaren Menschen ein “Sonderling”.

Lazzaro weiß nicht, wer seine Eltern sind, es spielt in dieser Gemeinschaft auch keine Rolle. Der, sagen wir mal, limitierte Genpool könnte eine Erklärung für Lazzaros Verhalten sein, aber das greift viel zu kurz. Mit Tancredi verbindet ihn (von seiner Seite aus) eine tiefe Freundschaft. Für uns Zuseher wirkt es natürlich so, als würde auch Tancredi ihn nur als Mittel zum Zweck sehen. Und das ist einer der Zauber dieses Filmes, dass unser Wahrnehmung, unsere Haltung “Jetzt wehr dich doch endlich! Jetzt lass doch nicht alles mit dir machen!” durch die Gleichmut von Lazzaro herausgefordert wird. Wieso ist dieser Mensch nur immer so glücklich?

Irgendwann wird die Dorfgemeinschaft durch die Polizei befreit und in eine nahe Stadt umgesiedelt. Lazzaro stürzt genau zu diesem Zeitpunkt in eine Schlucht. Ist er tot? Ab diesem Moment wird der Film zu einem Märchen, denn Lazzaro (siehe sein heiliger Namensvetter) steht nach langer Zeit wieder auf, gelangt auf Umwegen in die Stadt (hier muss man ein bisschen an The Village denken) und trifft sein “Rudel”, Antonia (Alba Rohrbacher, die ihren Augen nicht traut und Lazzaro voll Freude umarmt, so wie auch Trancredi wieder. Alle anderen sind, im Gegensatz zu Lazzaro, gealtert, aber auch unterschiedlich schnell. Die Reichen sind arm geworden, die Armen sind arm geblieben. Alle betteln, stehlen und betrügen für den Lebensunterhalt. Die “Befreiung” hat nichts verbessert. Eine beißende Kritik an der Gesellschaft. Und im Übrigen auch an der Kirche, denn dort werden arme Menschen, die ihrem harten Alltag kurz entfliehen und der Orgelmusik lauschen wollen, sofort als “nicht zugehörig” aus dem Gotteshaus verwiesen.

Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man nun meinen, der Film erzählt darüber, wie schlecht die Welt und ihre Bewohner sind und, dass man als guter Mensch hier einfach nur verlieren, ausgebeutet und wahnsinnig verletzt werden kann. Tatsächlich merkt man aber, wenn man genau hinsieht, dass alle durch die Umstände geprägt sind, dass niemand per se ein “schlechter” Mensch ist. Dass alle Figuren auch ihre guten, warmherzigen Seiten haben, die aber durch gewisse Umstände verschüttet wurden, dennoch immer wieder einmal sichtbar werden. Rohrwacher hat ganz viel Empathie für ihre Figuren und sie schafft es, dass alles romantisch verklärt wirkt, auch das Leben neben dreckigen Bahngleisen.

Das Ende werde ich nicht spoilern, es ist noch rätselhafter und traurig-schöner als der Rest des Filmes. Ich musste nachher noch sehr lange mit den Tränen kämpfen.