Vance schildert die “Hillbillies” (manchmal nennt er sich auch drastisch “white trash”) sehr pointiert als Menschen, die stehenbleiben, aus dem Auto steigen und den Hut abnehmen, wenn sie an einer Trauerzeremonie vorbeikommen, um dem unbekannten Toten Respekt zu zollen. Die aber keine Probleme damit haben, den Inhaber eines Spielzeuggeschäftes eine Abreibung zu verpassen, wenn er ihrer Meinung nach ein Kind schlecht behandelt hat; oder die einem ortsbekannten Vergewaltiger den Prozess machen – bevor ihm der Prozess gemacht wird. Zusammengefasst: Warmherzigkeit trifft auf ein enormes Gewaltpotential.
Mithilfe von Galgenhumor schildert Vance die “Regeln” bei ehelichen Streitereien:
Never speak at a reasonable volume when screaming will do; if the fight gets too intense, it’s ok to slap and punch, so long as the man doesn’t hit first. Always express your feeling in a way that’s insulting and hurtful to your partner; if all else fails, take the kids and the dog to a local motel and don’t tell your spouse where to find you.
Hillbilly Elegy, S. 71
Interessant auch, wie Vance beschreibt, als er zu einem gehobenen Abendessen geladen war und wie “”Pretty Woman” die Reihenfolge des Bestecke vorher lernen musste.
Der Roman ist überhaupt von großer Ambivalenz geprägt. Vance schildert die schwierigen und ärmlichen Verhältnisse, aus denen die Hillbillies stammen, die Vorurteile, mit denen sie konfrontiert sind und die tatsächlichen Probleme, die es im System gibt. Gleichzeitig erläutert er aber auch die gewisse Trägheit, die viele Hillbillies ausmacht, ihre Tendenz dazu, in ungünstigen Strukturen zu verharren, auch ein Desinteresse gegenüber Bildung und beruflichem Vorankommen. Daraus resultierend laut Vance: Unbeständigkeit in jeder Beziehung, die von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Vance hat diese Anteile in sich selbst gespürt und sich deshalb vier Jahre beim Militär verpflichtet, um zur Disziplin quasi gezwungen zu werden und etwas aus sich zu machen, was natürlich ein sehr drastischer Schritt ist. Später studiert er Jus in Yale, gründet eine Familie; er hält Kontuität für das Fundament für Zufriedenheit und Erfolg. Vance zieht eine interessante Schlussfolgerung, vor allem, wenn man bedenkt, dass er nun Vizepräsidentschaftskandidat ist: Die Politik kann schon einiges für diese Menschen tun, aber sie kann sie nicht grundlegend verändern, wenn diese nicht eine gewisse “Selbstmotivation” mitbringen.
Sein Roman wird mit zunehmender Dauer immer mehr zu einer Art soziolgischem Manifest, sehr facettenreich und analytisch, Vance ringt um eine Lösung, die er aber nicht findet, weil es die Lösung eben nicht gibt, es scheint ihn aber zu frustrieren. Ich verstehe jedenfalls nach der Lektüre nicht, was an diesem Buch “umstritten” sein soll. Auch wenn Vance mit “seinesgleichen” phasenweise hart ins Gericht geht, ist da immer gleichzeitig sehr viel liebevolle Empathie. Das Buch ist politisch, aber nicht parteipolitisch. Trump wird kein einziges Mal erwähnt.
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